Alexander P. Pöhl

 

Justitia –

Die Blinde mit der Binde

 

 

Ein Blick hinter die Kulissen der Justiz

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by Naira-Verlag, Berlin

Printed in Germany 2002

Umschlaggestaltung: Naira-Verlag, Berlin

ISBN 3-8311-3907-5

 

 

 

Strebe nie nach einem Richteramt! Du möchtest die Ungerechtigkeiten nicht ausrotten können, du nähmst zu viel Rücksicht gegen einen Mächtigen, erregst Anstoß so trotz deiner Ehrlichkeit.

(Sirach 7, 6)

 

 

 

Vorwort

 

Recht und Gerechtigkeit sind die wichtigsten Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens; ohne sie ist Streit und Unterdrückung vorprogrammiert. Schon in der Antike begriffen die Menschen, dass dieses hohe Ziel – wenn überhaupt – dann nur mit göttlicher Hilfe zu erreichen ist. Schon in der Mythologie der alten Griechen gab es deshalb eine eigene Göttin, die für die Gerechtigkeit zuständig war. Ihr Name war Dike: Sie wurde wie andere griechische Götter von den Römern übernommen und in Justitia umbenannt. Ursprünglich war sie mit einem Palmenzweig, dem Symbol des Friedens, ausgestattet. Dieser wurde später durch das Schwert ersetzt, das die Strafgewalt bildhaft darstellen soll. Auf alten Abbildungen hält Justitia in der rechten Hand das Schwert steil nach oben gerichtet zum Zeichen ihrer Entschlusskraft und Entscheidungsfreude. Weil die Römer Justitia vor allem auch mit Äquitas, der Gleichheit aller vor dem Gesetz identifizierten, gab man ihr als Symbol dafür eine Waage in die linke Hand. Erstmals im Jahre 1494 auf einem Holzschnitt von Albrecht Dürer nimmt die Göttin Justitia das Wägen mit verbundenen Augen vor, womit zum Ausdruck kommen soll, dass sie ohne Ansehen der Person urteilt.

In dieser Gestalt sehen wir heute die Göttin Justitia vor und in vielen Gerichtsgebäuden stehen als moralisches Mahnbild, das jedem, der in ihren Diensten steht, die besondere Bedeutung seines Amts und die damit verbundenen Verpflichtungen bewusst machen soll. Dieses Buch hat sich als Aufgabe gestellt, viele durch Zeit, Gewohnheit und Bequemlichkeit entstandene Missstände aufzudecken, damit auch wir so wie die alten Römer hoffen können, dass das goldene Zeitalter zurückkehrt, in dem Justitia nicht hinter düsteren Wolken verborgen ist, sondern wieder in hellem Glanz erstrahlt.

Übrigens war Justitia nicht nur die Göttin der Gerechtigkeit, sondern außerdem noch die Göttin der Zeit. Zwischen beiden besteht ja auch ein direkter Zusammenhang: Talleyrand brachte es auf den Punkt, indem er feststellte: „Gerechtigkeit zu üben heißt, dies sofort zu tun, denn Aufschub bedeutet Ungerechtigkeit.“ Auch bei uns sagt der Volksmund im Grunde genommen nichts anderes, wenn er fordert: „Die Strafe soll der Tat auf dem Fuße folgen!“ So gesehen ist das, was die heutige Justiz produziert, vielfach fast schon als Ungerechtigkeit zu bezeichnen.

Aber auch in anderer Hinsicht hängen Gerechtigkeit und Zeit zusammen. Wer Recht sprechen will, muss sich auch die notwendige Zeit dafür nehmen. Wenn man aber heutzutage gerade die Zivilsitzungen vieler Gerichte beobachtet, kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass hier mit den Parteien oft nur „kurzer Prozess“ gemacht wird, indem sie im Minutentakt abgefertigt werden. Das Wort „Prozess“ bedeutet jedoch genau genommen das Gegenteil: Es stammt vom lateinischen Verb „procedere“ (zu deutsch: „voranschreiten“); gemeint ist also, dass man sich mit gemessenen Schritten auf ein bestimmtes Ziel zubewegen soll.

 

Wollte man die Justiz von heute allegorisch neu darstellen, käme womöglich nach den Erfahrungen einer ganzen Menge von enttäuschten Betroffenen heraus, dass zur Binde vor den Augen der Justitia nun auch noch ein Brett vor dem Kopf vorstellbar wäre. Dies ist eine krasse Übertreibung und allein schon deshalb falsch: Man kann nicht die gesamte Justiz über einen Kamm scheren, denn es arbeiten in ihren Reihen auch Richter und Beamte, die in vorbildlicher Weise mit Fleiß und Eifer ihre Pflicht erfüllen. Dieses Buch soll nur die anderen, die schwarzen Schafe, ins Visier nehmen, um Missstände anzuprangern, damit vielleicht eine Wende zum Besseren erreicht wird.

 

 

 

 

 

 

1.

 

 

 

 

Beginnen wir diese kritischen Betrachtungen der deutschen Justiz dort, wo man es sicher nicht erwarten würde, nämlich in Ägypten, genauer gesagt am Nil:

 

Eine Gruppe von etwa 50 deutschen Pauschalreisenden, die alle eine Nilkreuzfahrt auf einem Luxusschiff gebucht haben, ist in Luxor auf der Suche nach ihrem Dampfer. Sie wandern am Nil von Landungsbrücke zu Landungsbrücke, wo jeweils 6 Schiffe beieinander liegen, und fragen nach ihrem Dampfer, der einen wohlklingenden und vielversprechenden Namen trägt. Man sagt ihnen, ihr Schiff sei das letzte am Landungssteg, und es war tatsächlich auch das letzte im wahrsten Sinne des Wortes: Auf die Reisenden wartete ein so herunter gekommener Dampfer, wie ihn sich ein deutscher Tourist nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen vorstellen kann: In vielen Kabinen steht das Wasser, es riecht unerträglich nach Öl und Abgasen, und der Maschinenlärm ist so gewaltig, als wenn man in einer geschlossenen Garage einen Traktor laufen lassen würde.

Spontan entschließt sich die Reisegruppe, wieder nach Hause zu fliegen, doch scheitert dies daran, dass keine Plätze im Flugzeug zur Verfügung stehen. So entscheidet man sich dafür, die Reise irgendwie hinter sich zu bringen: Man schläft auf dem Deck im Liegestuhl, wo es noch in jeder Beziehung am ehesten zu ertragen ist und isst von den teils unappetitlichen Speisen nur das, was unverdächtig erscheint. Dennoch erkranken fast alle ernsthaft an „Montezumas Rache“.

 

Natürlich spricht man darüber, was zu tun sei: Manche wollen vor Gericht gehen, andere nicht. Eine Reisende rät schließlich: „Das Beste, was man tun kann, ist, alles so schnell wie möglich zu vergessen. Wer die deutsche Justiz in Anspruch nimmt, wird Schlimmeres erleben als wir hier auf dem Nil. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Niemand widerspricht.

So wie diese Reisenden denkt offenbar auch der Rest der Bevölkerung: Bei einer Meinungsumfrage nach dem Ansehen der verschiedenen Berufsstände lag die Richterschaft ganz am Ende, während die Anwälte einen der vordersten Plätze einnahmen. Eigentlich sollte es ja so sein, dass diejenigen, die Entscheidungen fällen, ein höheres Prestige genießen als diejenigen, die nur Anträge stellen.

Bleiben wir vielleicht noch kurz bei dem Thema Urlaubsreisen, weil es so instruktiv ist:

Betrachtet man die Rechtsprechung zu diesem Thema, so hat man den Eindruck, als ob nicht unabhängige Richter, sondern Schiedsstellen der Reiseunternehmen am Werke sind. Vielleicht fließt in die Urteile ja auch ein wenig vom Neid der Daheimgebliebenen mit ein. So haben die Reiseunternehmen freie Hand, den Urlauber nach Strich und Faden übers Ohr zu hauen:

Da bucht beispielsweise ein Familienvater ein Zimmer für 4 Personen, um darin mit Frau und zwei größeren Kindern seinen Urlaub zu verbringen. Als er dann erwartungsvoll anreist, wird seine Vorfreude arg getrübt, denn das Zimmer ist nur 11 qm groß. Das reicht für 4 Personen, befand das Amtsgericht Düsseldorf und fügte süffisant hinzu: Nicht das Zimmer sei zu klein, sondern eher wohl die Urlauber zu dick.

Nehmen wir noch einige Beispiele aus dem Urlaubsland, wo der Reisende die größte Chance hat, das zu bekommen, was er eigentlich nicht gewollt und gebucht hat; gemeint ist Ägypten. Da werden Pauschalreisen angeboten, bei denen Strandurlaub und Nilkreuzfahrt kombiniert werden, wobei versprochen wird, dass die Urlauber von den Badeorten am Roten Meer nach Luxor geflogen werden. Tatsächlich werden sie aber mit einem Bus befördert. Schadensersatz gibt es nicht, weil die Rechtsprechung beides in zeitlicher Hinsicht und, was die Bequemlichkeit angeht, gleichwertig findet, obwohl die ägyptischen Busfahrer bekannt sind für ihre riskante Fahrweise und ihre bemerkenswert hohe Unfallquote.

Sollte aber jemand in einem solchen Entwicklungsland ein 5-Sterne-Hotel buchen, kann es durchaus sein, dass er ohne irgendeine Erklärung in einer 3-Sterne Pension landet. Sofort nach Hause fliegen kann der Urlauber nur in den seltensten Fällen, weil normalerweise keine Plätze in Flugzeugen zur Verfügung stehen. Welcher Urlauber kennt sich schon auch damit aus, unter welchen Voraussetzungen er zur Not auch mit einer Linienmaschine vorzeitig nach Hause zurückfliegen darf und ob er dann dem Reiserecht entsprechend vom Reiseunternehmer sein ganzes Geld wieder zurück erhält? Er muss also den Urlaub irgendwie überstehen, auch wenn er unter solchen Voraussetzungen viel lieber zu Hause geblieben wäre. Schuld an seiner Misere sind angeblich immer die Hoteliers am Urlaubsort, die man normalerweise sowieso kaum belangen kann. Und wenn sich der Reisende dann an das deutsche Touristik-Unternehmen hält, bekommt er nur den Differenzbetrag zwischen dem 5-Sterne-Hotel und der 3-Sterne-Pension ersetzt, obwohl der Urlaub für ihn überhaupt keinen Wert hatte, sondern nur eine Gefährdung seiner Gesundheit darstellte. Das ist etwa so, wie wenn der Käufer eines Pkw statt dessen ein Motorrad geliefert erhielte und man ihn damit abspeisen würde, dass er ja den Differenzbetrag erstattet bekäme. Die Tourismusunternehmen haben keinen Schaden aus derartigen Manipulationen, sondern sogar den Vorteil, dass schlechter gehende Mittelklasseunterkünfte auch an den Mann gebracht werden. Deshalb haben sie in der Regel auch überhaupt kein Interesse, durch Vertragsstrafen oder Boykott gegen die Hoteliers vorzugehen. Und sollte sich für den Urlauber dann das Risiko einer schlechteren Unterkunft in einem Entwicklungsland verwirklichen, indem er durch die gebotenen Speisen erkrankt, bekommt er hierfür meistens nichts, denn er kann im Normalfall nicht nachweisen, dass seine womöglich lebensgefährliche Erkrankung mit der Verpflegung zusammenhängt. Eigentlich sollte die Beweislast in einem solchen Fall umgekehrt werden: Wenn schon in Reiseführern wegen der Gefahr einer Infektion empfohlen wird, in solchen Ländern nur die besten Hotels zu nehmen, sollte dem Reiseunternehmen die Beweislast dafür aufgebürdet werden, dass das Essen in der minderwertigeren Ersatzunterkunft einwandfrei gewesen ist. Dieser Nachweis wird von den Reiseunternehmen in der Regel wegen der Häufigkeit von Erkrankungen nicht zu führen sein. Aber bisher hat sich noch kein Richter gefunden, der diese völlig normalen Konsequenzen aus dem Schwindel bei Urlaubsreisen zog. Irgendwie hat man den Eindruck, die Richter sind den Reiseunternehmen gegenüber viel zu nachgiebig, denn sie hoffen, dadurch die Prozessflut ein wenig einzudämmen. Nicht selten hört man ja gerade aus der Richterschaft, die Deutschen würden sich zu „Prozesshansln“ entwickeln, die jede nur denkbare Gelegenheit wahrnehmen, um ein Gericht zu belästigen: Kaum seien sie von einer Urlaubsreise zurückgekommen, schon würden aus den fadenscheinigsten Gründen Mängelansprüche geltend gemacht. Kein Wunder, dass die Deutschen böse auf ihre Justiz sind.

 

Die Richter führen ihr geringes Ansehen darauf zurück, dass sie angeblich zu schlecht bezahlt werden, denn heutzutage würde jeder nach seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen eingeschätzt. Dass diese Meinung jedoch nicht zutrifft, zeigt uns ein Blick in die USA: Dort ist es genau umgekehrt wie bei uns. Während die Richter dort ein ausgezeichnetes Image haben, rangieren die Anwälte in der Skala des öffentlichen Ansehens ganz unten, obwohl die bekannten unter ihnen Unsummen verdienen.

 

Welche Wertschätzung die Richter in den USA genießen, sei mit einem Erlebnis eines jungen deutschen Amtsrichters illustriert. Als er einmal in die USA flog, wurde er bei der Buchung der Reise nach seinem Beruf gefragt, den er wahrheitsgemäß angab, ohne die Folgen zu ahnen. Er wurde überall mit einem für ihn völlig ungewohnten Respekt behandelt und sogar zu einer Veranstaltung eingeladen, auf welcher auch der amerikanische Präsident zu Gast war. Der Gastgeber begann seine Begrüßung mit den Worten: „Es ist mir eine besondere Ehre, Herrn Richter ...... aus Germany zu Gast zu haben. Außerdem ist noch anwesend der Präsident der Vereinigten Staaten, den ich ebenfalls sehr herzlich begrüße.“

 

Genaugenommen ist ja auch der Richter Inhaber des höchsten Amts im Staat. Alte CDU-Politiker, die vielleicht glaubten, sie würden über der Justiz stehen, mussten dies gerade mit etwas ungläubigem Staunen zur Kenntnis nehmen. Ein Blick in die USA zeigt, wie schnell es gehen kann, dass sich auch ein Präsident einmal vor einem Gericht zu verantworten hat. Dementsprechend hoch sollte auch der Respekt sein, der dem Inhaber eines solchen Amtes entgegen gebracht wird.

 

Wenn es hierzulande aber genau umgekehrt ist, so hat dies vielerlei Ursachen, die Gegenstand dieser kritischen Untersuchung sind.

 

Eigentlich sind es die Richter selbst, die ständig an ihrem negativen Image arbeiten. Wie schon erwähnt, beschimpfen sie ihr Publikum, nämlich die Bürger, mit Ausdrücken wie „Prozeßhansln“, „Querulanten“ und „Michael-Kohlhaas-Typen“, wobei sie gerade auf Reiseprozesse und Nachbarschaftsstreitigkeiten anspielen. Es ist aber normal, dass bei der Zunahme der Auslandsreisen natürlich ebenfalls die gerichtlichen Auseinandersetzungen ansteigen. Auch durch die Tatsache, dass die Baugrundstücke immer kleiner werden, entstehen Streitigkeiten viel leichter, als wenn die Menschen in größeren Abständen von einander wohnen. Wer direkt neben dem Misthaufen des Nachbarn seine Terrasse hat, wird selbstverständlich alles versuchen, diese missliche Lage zu beheben, ohne dass er es verdient hätte, deshalb von der Justiz als „Streithammel“ hingestellt zu werden. Im übrigen ist es ja so, dass unser ständiges wirtschaftliches Wachstum mehr Vertragsabschlüsse mit sich bringt, und damit vermehrt sich proportional auch ständig der Konfliktstoff, der dann unter Umständen auf die Justiz zukommt.

Wenn man mit Richtern spricht, muss man leider feststellen, dass diese ihre Tätigkeit oftmals so sehen: Sie empfinden es als eine Art von Belästigung, wenn sie sich mit Sachen befassen müssen, die sie als unter ihrer Würde betrachten. Sie meinen, sie hätten weniger zu tun, wenn sie den Zustrom solcher schlichten Prozesse durch ein entsprechendes Verhalten eindämmen. Tatsache aber ist, dass der einzelne Richter immer ein festgesetztes Pensum mit einer gewissen Zahl von Prozessen zu erledigen hat - wenn er sich nicht mit dem Gartenzwerg befassen muss, der dem Nachbarn die Zunge herausstreckt, dann eben vielleicht mit einem Kotflügel, der bei einem Unfall verbeult wurde.

 

Weil es die Justiz als ärgerlich empfindet, mit Kleinigkeiten befasst zu werden, schlucken es die Bürger in der Regel, wenn sie im Rechtsverkehr immer häufiger von den großen Unternehmen übers Ohr gehauen werden. Immer mehr Menschen verzichten auf ihr Recht, statt es durchzusetzen, und sie fressen ihre Wut in sich hinein oder schreien sie heraus, was natürlich dem Ruf der Justiz schadet. Dies nutzen manche Firmen aus, indem sie sich eine Vielzahl von umlagefähigen Kosten und Gebühren einfallen lassen, die sie ohne Rechtsgrund von ihren Kunden auf Grund einer Einzugsermächtigung oder über eine Kreditkarte kassieren. Nehmen wir als Beispiel einen Fall, bei dem sich sicher niemand trauen würde, vor Gericht zu gehen: Ein Internetversand berechnet bei der Bezahlung 1% Aufschlag „wegen Auslandeinsatz“, obwohl das Unternehmen in Deutschland ansässig ist; zur Begründung wird angegeben, dass sämtliche Zahlungsvorgänge über die im Ausland befindliche Muttergesellschaft laufen würden. Insgesamt ergibt sich bei den Riesenumsätzen der Firma ein nettes Zubrot.

Oder: Firmen, die eine Einzugsermächtigung besitzen, verlangen bei Änderungen (beispielweise bei einem Wechsel der bezogenen Bank oder der Konto-Nummer) erhebliche Gebühren. Dass die nicht-rechtskundigen Bürger von den großen Unternehmen immer mehr zur „Melkkuh“ gemacht werden, ist hauptsächlich der Interesselosigkeit der Justiz zuzuschreiben: Manche Richter tun sogar so, als ob wir noch im alten Rom leben würden, wo es hieß: Minima non curat prätor (Um Kleinigkeiten kümmert sich der Richter nicht). Was diese Richter dabei aber übersehen, ist, dass es in der Regel nicht um Kleinigkeiten geht, sondern um millionenschwere Einkommensquellen der großen Unternehmen. Wenn schon die alten Lateiner zitiert werden, sollte man eher sagen: „Principiis obsta!“ – Wehret den Anfängen. Einem echten Richter sollte es doch völlig gleichgültig sein, ob es um 50 oder 50.000 DM geht; ihn sollte interessieren, die Wahrheit herauszufinden und die Rechtsprobleme zu lösen. Eigentlich sollte es ihn doch freuen, wenn ein kleiner Bürger einem Riesenkonzern die Stirn bietet und vor Gericht zieht! Aber dort bekommt er in der Regel Sätze wie den folgenden zu hören: „Mit so einer Lappalie müssen Sie die Justiz behelligen!“

Gott sei Dank gibt es die Verbraucherschutzverbände, die sich dieser Fälle immer mehr annehmen und so dem Bürger anstelle der Justiz beistehen.

 

Für die Justiz gilt in besonderem Maße das, was eine Umfrage kürzlich zutage förderte: Ausländer wurden gefragt, was sie in Deutschland am meisten stört. Man würde meinen, dass die Antwort „Ausländerhass“ oder so ähnlich lauten würde. Tatsächlich aber stoßen sich die Ausländer am meisten an der Arroganz und Unfreundlichkeit der deutschen Beamten. Innerhalb der Beamtenschaft stehen gerade auch in dieser Beziehung die Richter an erster Stelle. Das können Sie auch mit einem einfachen Test bestätigt sehen: Versuchen Sie einmal, Menschen zu finden, die bereit sind, einen Sachverhalt vor Gericht zu bezeugen. Da werden Sie sich hart tun, denn wenn man sich im Volk so umhört, ist das Schicksal eines Zeugen in höchstem Maße bedauernswert: Da erscheint ein Bürger vor Gericht, um eine staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen und um zu helfen, Licht in einen Streitfall zu bringen; und plötzlich sieht er sich in der Rolle eines Trottels, der sich offenbar nichts merken konnte; oder er wird gar als Lügner hingestellt. Wenn er Pech hat, droht ihm sogar hinterher ein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage, wie es beispielsweise auch unserem Außenminister Fischer ergangen ist: Da wird er plötzlich zu fast 30 Jahre zurück liegenden Einzelheiten vernommen, die kaum noch mit dem Prozessstoff zu tun haben, so dass man sich fragt, ob der Mordprozess gegen Klein oder die Schädigung des Rufs unseres Außenministers im Vordergrund standen. Weil die Lage so schlimm ist, hat sich die Justiz sogar selbst veranlasst gesehen, Zeugenbetreuungsstellen einzuführen.

Viel genützt hat dies offenbar nicht, denn immer wieder hören oder lesen wir, dass vergewaltigte Frauen lieber das, was ihnen angetan wurde, auf sich beruhen lassen, als dass sie als Zeugin auftreten. Vor Gericht droht ihnen nämlich häufig eine öffentliche Bloßstellung, die schon fast eine zweite, nämlich psychische Vergewaltigung darstellt.

 

Geht es Ihnen auch so, dass Sie schon beim Betreten eines Büro- oder Geschäftshauses spüren, welche Art von Menschen dort beschäftigt sind? Manchmal wird man von den Angestellten nicht nur freundlich gegrüßt, sondern sie bieten sogar hilfsbereit ihren Rat und ihre Hilfe an. Eine ganz andere Atmosphäre herrscht in den Justizgebäuden: Der Bürger wird dort meistens gar nicht zur Kenntnis genommen.

Interessant ist es auch, wie die neueren Bauten der Justiz aussehen: Während nach dem Krieg freie, offene Gebäude errichtet wurden, in denen die Richter fast schon wie auf dem Präsentierteller saßen, scheint sich nun eher eine Bunkermentalität breit zu machen. Die Justiz igelt sich ein oder kapselt sich ab, was nicht allein mit Terroristenprozessen erklärbar ist.

 

Man braucht nur jemandem ein Amt zu geben, und schon nach kurzer Zeit zeigt sich, was für eine Art von Mensch er in Wirklichkeit ist. Leider haben sich die Verhältnisse und die Verdienstmöglichkeiten im Lauf der Jahrzehnte so verändert, dass es nicht mehr unbedingt die Besten sind, die im Staatsdienst arbeiten wollen.

In früheren Zeiten ist es ja einmal so gewesen, dass die Söhne aus „besseren Kreisen“ Beamte und Richter wurden. Sie brachten schon von Haus aus ein gewisses Rüstzeug an Benehmensregeln mit in den Beruf ein. Für sie war es selbstverständlich, dass sich ein Richter eine ganze Reihe von Wesenszügen anzueignen hat, wie Vornehmheit, Geduld, Höflichkeit, Sachlichkeit, Ruhe und dergleichen mehr. Heutzutage kann jeder das Abitur machen und Jura studieren. Nur taugt er damit schon zum Richter? Es gibt sogar nicht selten Richter, die sich so schlecht benehmen, dass sie nicht nur gegen die Anstandsregeln, sondern auch gegen das Gesetz verstoßen. Ein typischer Beispielsfall soll dies verständlich machen:

Ein Richter lässt sich ein Haus bauen. Als er es zum ersten Mal betritt, stellt er zu seinem Erstaunen fest, dass die Höhe der Eingangstür nur 1,80 m beträgt, was ihn bei seiner Körpergröße dazu zwingt, den Kopf einzuziehen. Er behält bei der Bezahlung der Rechnung den Betrag ein, der für die Erneuerung der Tür aufzuwenden ist. Prompt wird er von dem verantwortlichen Bauunternehmer verklagt. Im Prozess tritt zur Überraschung des Richters der Unternehmer selbst als Zeuge auf; dies ist rechtlich möglich, weil seine Firma eine GmbH ist, die rein formell von der Frau des Inhabers geführt wird. Die Überraschung des Richters wird aber noch größer, als dieser Unternehmer und zwei seiner Arbeiter bezeugen, er (der Richter) habe darauf bestanden, dass die Tür so niedrig würde. Die Ehefrau des Richters, die bei der Erteilung des Auftrags zugegen war, bezeugt das Gegenteil mit der Begründung, es habe kein Anlass bestanden, über die Normmaße einer Tür zu diskutieren. Das Ergebnis des Prozesses war, dass der Richter zur Zahlung verurteilt wurde. Begründet wurde dies damit, dass der Richter das Haus bewohne und es demzufolge auch in rechtlichem Sinne abgenommen habe (obwohl er wegen des Mangels von seinem Zahlungsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte!). Demnach sei nun der Richter beweispflichtig dafür, dass das Haus Mängel gehabt habe. Der zu niedrige Türstock sei nicht als Mangel anzusehen, weil drei Zeugen bekundet hätten, dass der Richter seine Haustür ausdrücklich so gewünscht habe. Die drei Zeugen des klagenden Unternehmens hätten als Handwerker einen „ehrlichen Eindruck“ gemacht; ihre Aussage sei daher glaubhaft. Demgegenüber habe aber die Ehefrau des Richters unglaubwürdig gewirkt. Auf die Art der Argumentation ohne Angabe von Gründen soll hier nicht eingegangen werden, sondern auf den Stil der Urteilsbegründung: Da werden drei Leute, die dem Gericht völlig unbekannt sind und die bei ihrer Arbeit geschlampt haben, als „ehrliche“ Handwerker charakterisiert, ohne dass irgendein Anhaltspunkt dafür ersichtlich ist. Was aber schlimmer ist, dass einer amtsbekannten, unbescholtenen Kollegenfrau ebenfalls ohne Begründung jede Glaubwürdigkeit abgesprochen wird. Wenn ein Gericht schon den Richter fälschlicherweise für beweispflichtig hält, hätte man ganz einfach schreiben können, er habe den notwendigen Beweis allein mit seiner Ehefrau nicht führen können, da drei Zeugen das Gegenteil bekundet hätten. Jedenfalls bestand kein Grund dafür, die Frau des Richters als unglaubwürdig hinzustellen, also zu beleidigen: Wenn sich nämlich drei Zeugen finden, die nach Ansicht eines Gerichts etwas glaubhaft bekunden, dann kann eine Gegenzeugin noch so glaubwürdig wirken: den vollen Beweis kann sie jedenfalls nicht erbringen.

Ein Gericht, das die ungeschriebenen „Spielregeln“ einhält, nach welchen niemand ohne Notwendigkeit bloßgestellt werden darf, hätte eigentlich schreiben müssen, dass die Aussage der Ehefrau zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich habe, dass man ihr aber im Hinblick auf die drei Gegenzeugen nicht habe folgen können. Dann wäre das Urteil zwar noch nicht richtig, aber es wäre jedenfalls nicht unanständig gewesen. Falls jemand glaubt, bei dem geschilderten Urteil würde es sich um einen krassen Einzelfall handeln, um einen „Ausrutscher“ also, sei darauf verwiesen, dass gegen die Entscheidung natürlich Berufung eingelegt wurde und dass diese – wie leider viel zu häufig – ohne jede Begründung verworfen wurde.

Dieser Fall, der in Anwaltskreisen nicht ohne eine gewisse Schadenfreude erzählt wird, warf aber dann doch in der Richterschaft Fragen auf, die man sich bisher nicht gestellt hatte: Ist es eine Beleidigung, wenn man einen Menschen öffentlich als unglaubwürdig bezeichnet? Und ist eine solche Herabwürdigung nicht nur dann gerechtfertigt, wenn seine Tat, also seine falsche Aussage, bewiesen ist oder wenn das Gericht gar nicht anders entscheiden kann, ohne auf die Frage der Glaubwürdigkeit einzugehen? Aber die Richter brauchen wohl kaum zu befürchten, sich selbst einmal für das verantworten zu müssen, was sie offensichtlich ohne viel zu bedenken in ihr Diktiergerät gesprochen haben. Und mit der Verfassung, wo es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ haben sie im alltäglichen Justizbetrieb sowieso nicht allzu viel zu schaffen. Wäre ein Richter wirklich überfordert, wenn er sich Gedanken darüber machen würde, welchen Schaden er mit dem, was er so sagt oder schreibt, anrichten kann?

 

In der Richterschaft herrschen in mancher Hinsicht merkwürdige Auffassungen über den Umgang mit dem Publikum, insbesondere bei Verhandlungen. Während die Anwälte sich zur Begrüßung des Gerichts zu erheben haben, hört man vom Gericht meist nur als Erwiderung: „Die Sitzung ist eröffnet!“ Viele Richter sind der Auffassung, es sei nicht mit der Würde des Gerichts zu vereinbaren, wenn man statt der Floskel „Die Sitzung ist eröffnet“ den Gruß „Guten Tag“ verwende. Sie sind sich anscheinend gar nicht darüber im klaren, dass man beides verbinden kann und wie sehr es die Atmosphäre entspannt, wenn ein Gericht beispielsweise eine Zivilsitzung nicht nur förmlich eröffnet, sondern noch einen freundlichen Gruß anfügt. Vielen Richtern ist die Stimmung in ihrem Sitzungssaal völlig gleichgültig. Sie wissen nicht, dass es sich in entspannter Atmosphäre leichter verhandelt und dass die Arbeit viel schneller vorangeht. Wenn aber ein Richter sogar in einer Strafverhandlung die Anwesenden begrüßt, dann ist der Verteidiger erleichtert und denkt: „Voilà un homme!“

 

Auch in unserem demokratischen Rechtsstaat war es lange Zeit sogar üblich, dass die Zeugen und Angeklagten selbst vor dem jüngsten Richter zu stehen hatten. Wenn allerdings Ministerialbeamte oder Politiker als Zeugen auftraten, wurden für diese eilfertig Stühle herbeigeschafft. Sehr schön dokumentiert findet man dies in alten Prozessberichten des Spiegels. Auch wenn sich die Verhältnisse – äußerlich betrachtet – geändert haben: Im Grunde genommen ist die Einstellung vieler Richter die gleiche geblieben.

Man könnte vielleicht meinen, dass hier die Ansichten eines Außenseiters geäußert werden. Aber Sie können sicher sein, dass viele so denken. Die meisten trauen sich nur nicht, es zu sagen. Die Anwälte schweigen, weil sie fürchten, dass sich die Richter an ihnen rächen könnten. Die Richter schweigen, weil sie am eigenen Fortkommen interessiert sind. Die Politiker trauen sich nicht, irgendetwas zu ändern, weil schon die kleinsten Reformen die Gegnerschaft derjenigen provozieren, die um ihre Stellen oder Pfründe fürchten. Der langen Rede kurzer Sinn: Im Endeffekt tut keiner etwas und so bleibt alles beim alten, denn alle wissen: Wenn man etwas unternehmen würde, würde man sich nur in die Nesseln setzen, aber keinen Erfolg haben. Schon bei den kleinsten Reformversuchen hebt ein großes Geschrei an, bei dem der Eindruck erweckt wird, als ginge der Rechtsstaat zugrunde.

 

 

 

 

2.

 

 

Contempt of Court (Missachtung des Gerichts), dieser Tatbestand des angelsächsischen Rechts erfüllt deutsche Richter mit Neid. Viele wissen zwar nicht genau, was dieser Tatbestand bedeutet. Trotzdem glauben sie, dass eine solche Bestimmung auch im deutschen Recht verankert werden müsste, denn schließlich ginge es ja nicht an, „dass irgendein hergelaufener Schreiberling die Justiz durch unsachliche Kritik verunglimpft“. Anstatt sich offen mit ihren Kritikern auseinander zu setzen, zieht sich die Justiz in der Regel beleidigt in ihr Schneckenhaus zurück und wenn sie sich sehr betroffen fühlt, sieht sie den Tatbestand der Beleidigung sehr schnell als erfüllt an. So wurde nach Presseberichten kürzlich ein Journalist nur deshalb verurteilt, weil er die Freilassung eines verhafteten Verbrechers kritisierte und dabei den Richter darauf hinwies, dass auch Wiederholungsgefahr ein Haftgrund sei. Das Amtsgericht erblickte in diesem Hinweis eine Beleidigung des Ermittlungsrichters, denn es werde der begründete Eindruck erweckt, als kenne der Richter das Gesetz nicht oder wolle es bewusst nicht anwenden.

Was die meisten Richter anscheinend gar nicht merken, ist, dass sie selbst es sind, die kräftig an ihrem Negativ-Image mitarbeiten. Verglichen mit dem, was Richter über ihre eigenen Kollegen schreiben, ist das, was der zitierte Journalist veröffentlicht hat, sowieso ganz harmlos. Die Herabwürdigung des Kollegen scheint gerade bei Richtern unheimlich beliebt zu sein. Man braucht nur einmal in Fachzeitschriften die Entscheidungen höherer Gerichte zu lesen, um dies bestätigt zu finden. Da werden untere Instanzen mit eigenartigen Ausdrücken wie „Vorderrichter“ oder „Erstrichter“ usw. tituliert. Dies geschieht allein deshalb, weil auf diese Weise etwas leichter aus der Feder fließt, was man über ein Amts- oder Landgericht nicht ohne weiteres schreiben könnte. Hier ein Beispiel:

 

„Mag man es noch hinnehmen, wenn der Erstrichter ausführt, .......... ,so wird es bedenklich, wenn er fortfährt, .......... Rechtsirrig ist es jedenfalls, wenn er meint, ........... Und gänzlich abwegig ist seine Erwägung, ........

Auf all dies kommt es aber deshalb nicht an, weil der Erstrichter - von seinem Standpunkt aus inkonsequent - jedenfalls zum richtigen Ergebnis kommt.“

 

Man bestätigt zwar die Entscheidung des „Erstrichters“, aber man haut sie ihm im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren. Das Perfide daran ist, dass dies ohne jede Notwendigkeit geschieht. Man hätte durchaus auch ausführen können, dass die Entscheidung des „Erstrichters“ zutrifft und hätte dann für diese Meinung eine andere Begründung geben können. Besonders unwürdig ist ein solches Verhalten auch deshalb, weil der Erstrichter sich nicht wehren kann.

 

Natürlich reden sich auch manchmal die „Erstrichter“ ihren Kummer von der Seele und schimpfen auf die „weltfremden Theoretiker da oben, die keine Ahnung von der Praxis haben“ oder so ähnlich.

 

Das Merkwürdige bei diesem gegenseitigen Hick-Hack ist jedoch, dass die deutschen Richter im allgemeinen davon überzeugt sind, dass die deutsche Justiz trotzdem absolute Weltspitze sei. Wahrscheinlich ist es aber bei der Justiz ähnlich wie im Schulwesen: Auch die deutschen Lehrer glaubten immer, dass wir mit ihrem Bildungssystem an der Spitze liegen würden, bis ein internationaler Vergleichstest zu Tage förderte, dass wir zu den Schlusslichtern gehören. So schicken nun nicht mehr Ausländer ihre Kinder auf deutsche Internate, sondern begüterte deutsche Eltern schauen, ob sie ihr Kind nicht vielleicht hier an einer internationalen Schule unterbringen können.

Eine ähnliche Entwicklung können wir bei der Justiz beobachten: Früher gab es ausländische Firmen, die hier einen Scheinwohnsitz gründeten, um ihre Streitigkeiten mit Kunden aus aller Welt vor deutsche Gerichte bringen zu können, denn diese waren für ihre Schnelligkeit und Zuverlässigkeit bekannt.

Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Heute sieht selbst der juristische Laie, dass die deutsche Justiz immer mehr ausgehöhlt wird: Wo klagte beispielsweise Barbara Becker auf Unterhalt? Natürlich nicht in München, sondern im fernen Florida! Und als ausländische Zwangsarbeiter Geld wollten, wandten sie sich auch nicht an unsere Gerichte, wo sie schon oftmals Schiffbruch erlitten hatten. Natürlich spielte in diesen Fällen eine Rolle, dass man in den USA höhere Zahlungen als in Deutschland erwarten kann. Aber der Hauptvorteil der amerikanischen Justiz scheint doch zu sein, dass man in überschaubarer Zeit mit vernünftigen Beweisregeln zu einem guten Ergebnis kommt. Man braucht sich nur einmal zu fragen, wie wohl der Rechtstreit zwischen einem Raucherkrebsopfer und der Zigarettenindustrie vor einem deutschen Gericht ausgegangen wäre. Deshalb wunderten wir uns nicht, als wir in der BSE-Krise hörten, dass ein Anwalt drohte, er werde die Schadensersatzansprüche vor die amerikanische Justiz bringen, was im Prinzip gar nicht schwierig sein dürfte. Oft genügt schon eine solche Drohung, um eine Basis für erfolgreiche Gespräche über eine Schadensregulierung zu schaffen. Demgegenüber ist die Ankündigung einer Klageerhebung vor einem deutschen Gericht eher das, was sich die Zahlungspflichtigen wünschen: Hier kann man auf Zeit und Zermürbung des Gegners spielen, und irgendwann im Verlaufe des Instanzenzugs geben die meisten auf.

Auch mit der deutschen Börse, wo so viel geschwindelt wird (vgl. Günther Ogger, Der Börsenschwindel), befassen erfahrene Anwälte immer häufiger die amerikanische Justiz, indem sie in den USA mittels Zeitungsannoncen dort ansässige Geschädigte suchen und eine Sammelklage auch für deutsche Betroffene mit erheben lassen. Der eklatante Unterschied zwischen der Anrufung der deutschen und der amerikanischen Justiz besteht darin, dass vor den deutschen Gerichten meist nicht viel herauskommt, während schon die Zulassung einer Klage vor einem amerikanischen Gericht in der Regel großzügige außerprozessuale Abfindungen zur Folge hat.

Nicht nur die amerikanische Justiz ist für ihre deutschen Kollegen eine ernst zu nehmende Konkurrenz geworden, auch die Schiedsgerichte lösen die staatliche Rechtsprechung immer mehr ab. Die großen wirtschaftlichen Unternehmen können es sich nämlich nicht leisten, zu lange auf Entscheidungen warten zu müssen. Deshalb wird man, wenn man die Entscheidungssammlungen der höchsten Gerichte durchblättert, nur wenige Fälle finden, in denen die großen deutschen Unternehmen auftauchen.

 

Auch wenn es die Richter verständlicherweise nicht gerne hören: Ein guter Anwalt ist in der Regel besser als sie. Das liegt daran, dass ein guter Anwalt natürlich Spezialist für irgendeine Materie sein muss, von welcher ein Richter im Normalfall keine Ahnung hat. So gibt es unter den Anwälten beispielsweise Experten für Versicherungsrecht, Speditionsrecht, usw. Die Spezialisten unter den Anwälten informieren sich oft aus Zeitschriften, die bei der Justiz nicht zur Verfügung stehen oder für die einem Richter die Zeit fehlt, sie zu lesen. So gibt es beispielsweise Zeitschriften für Einzelhändler, die eine Fundgrube für das Wettbewerbsrecht sind. Die Spezialisten unter den Anwälten sammeln hieraus ihre Informationen, und wenn ein Fall zur Entscheidung ansteht, legen sie den Gerichten eine Vielzahl vergleichbarer Urteile vor. Versicherungen und die verschiedensten Organisationen verfügen über riesige Archive, aus denen sie die ihnen genehmen Urteile an ihre Anwälte weitergeben. Dass es auch völlig entgegengesetzte Entscheidungen gibt, verschweigen sie natürlich. Hinter einem guten Spezialanwalt steht oft die ganze Rechtsabteilung eines Großunternehmens. Dieser geballten Ansammlung von Fachwissen steht am Landgericht meist nur ein Einzelrichter gegenüber, der unter Umständen sogar ein Neuling auf dem Gebiet des Zivilrechts ist. Was soll da schon herauskommen? Die Gerichte sind so oft nicht in der Lage, anders zu urteilen, als der Spezialanwalt es wünscht, denn es erfordert schon Mut, viel Wissen und noch mehr Arbeit, sich gegen einen (wirklich oder vermeintlich) herrschenden Trend in der Rechtsprechung zu wenden, der indirekt wie ein Zwang wirkt. Auf diese Weise lenken große Industrieverbände oder Versicherungen oft die Rechtsprechung in die Richtung, die für sie am meisten Profit bringt. So gesehen ist der Richter oft unbewusst nur ein Werkzeug der Mächtigen.

 

 

 

 

3.

 

 Wir leben in einer Zeit des geistigen und moralischen Verfalls. Die entsprechenden Symptome sind natürlich auch bei der Justiz zu beobachten. Am eindrucksvollsten lässt sich der Niedergang statistisch belegen.

Die Rechtsanwaltskammern veranstalten von Zeit zu Zeit Umfragen unter ihren Mitgliedern. Gegenstand der umfangreichen Fragenliste ist die Justiz. Nur eine dieser Fragen soll uns hier interessieren; sie lautet: „Haben die Gerichte die Sachverhalte, über die sie entschieden haben, im wesentlichen richtig erfasst?“ Als diese Frage vor mehr als 30 Jahren gestellt wurde, war die Zustimmung fast eindeutig. In einem Oberlandesgerichtsbezirk errechneten die Richter aufgrund der angegebenen Prozentzahl, dass es genau 10 Anwälte waren, die mit „nein“ geantwortet haben mussten. Man tippte in Richterkreisen, wer diese 10 „Quertreiber“ gewesen sein müssten. Dabei fielen immer die gleichen Namen von Anwälten, die ihren Ruf hauptsächlich dadurch erworben hatten, dass sie ständig auf Konfrontationskurs gingen. In Richterkreisen konnte man sich einfach nicht vorstellen, dass ein „normaler“ Anwalt auf die Idee kommen könnte, eine derartige Frage mit „nein“ zu beantworten.

 

Ein erschreckendes Bild bot sich, als dieselbe Frage kürzlich wieder gestellt wurde. Es ergab sich nur eine Zustimmungsquote von 50 %, obwohl die Richter im Verhältnis zum Zeitpunkt der früheren Umfrage ganz erheblich weniger zu tun hatten. Merkwürdigerweise ging kein Aufschrei des Entsetzens durch die Hallen der Justiz, als dieses Ergebnis bekannt wurde. Auch vom Ministerium hörte man keinen Kommentar. In der Richterschaft war nur die Rede davon, dass die Anwälte immer aufsässiger würden, was deshalb normal sei, weil immer mehr Anwälte eine Zulassung bekämen, so dass sich jeder mit voller Kraft durchsetzen müsse. Nun, „aufmüpfiger“ als in der 2. Hälfte der 60-er Jahre (der Zeit der APO) sind die heutigen Anwälte sicher nicht; und es hat wohl auch nichts mit der Konkurrenzsituation innerhalb der Anwaltschaft zu tun, wenn in einer internen Anfrage den Richtern ein so schlechtes Zeugnis ausgestellt wird. Was sich geändert hat, ist nicht die Einstellung der Anwälte, sondern die Arbeitsweise der Justiz.

 

Vielleicht ist es am besten, wenn wir uns zunächst einmal klar machen, welche Entwicklung stattgefunden hat. Es ist zwar schon sehr lange her, aber trotzdem von vielen noch nicht vergessen: Da war es eine Ehre, Staatsdiener zu sein. Für diese Ehre haben die Menschen große Opfer gebracht. Wer Offizier werden wollte, musste über ein Vermögen verfügen oder reich heiraten, um sich diesen Beruf leisten zu können. Nicht viel anders sah es bei den Lehrern aus: so mancher betätigte sich nebenbei beispielsweise als Handwerker, um seine Familie über Wasser halten zu können. Wenn dies auch schon weit zurückliegt, so hat sich das Gefühl, als Staatsdiener eine besondere Stellung einzunehmen und dementsprechend auch etwas besonderes leisten zu müssen, bis in die Zeit nach dem letzten Krieg erhalten. In der Zeit des großen Booms nach dem Zusammenbruch lockte die Wirtschaft die Juristen mit phantastischen Angeboten. Wer dennoch zum Staat ging, tat dies aus Berufung. Heute ist dies anders:

 

Einem nicht gerade von Ehrgeiz und Arbeitseifer getriebenen Richter wird, wie es im Gesetz vorgeschrieben ist, seine dienstliche Beurteilung eröffnet. Sie ist aber nicht ganz zu seiner Zufriedenheit ausgefallen. Also stellt er, um die Gründe zu erfahren, den Verfasser zur Rede. Dieser antwortet, ohne zu Zögern: „Etwas mehr Arbeitsethos hätte ich mir schon von Ihnen gewünscht.“ Verärgert spricht sich der Richter bei einem befreundeten Kollegen aus: „Mehr Arbeitsethos hätte er haben wollen, hat er gesagt. Der Mann ist ja von vorgestern. Wo steht im Richtergesetz etwas vom Arbeitsethos? So etwas Hochstehendes ist doch in unserem mickrigen Gehalt wirklich nicht mehr mit inbegriffen.“

 

Heute ist das Wort Beruf, das ja mit Berufung zusammenhängt, weitgehend durch den Begriff „Job“ ersetzt worden. Entsprechend unterschiedlich ist auch die Arbeitsweise der Menschen geworden.

 

Beginnen wir mit einem aus juristischer Sicht schauerlichen Fall, der vor etwa einer Juristengeneration von einem Gericht zu entscheiden war. Ein Mann, dessen Staatsangehörigkeit kaum festzustellen war, hatte in den USA reichen jüdischen Frauen die Ehe in Aussicht gestellt und sie dabei um erhebliche Beträge „erleichtert“. Der Mann machte nicht nachprüfbare Angaben über seine angeblich günstigen Vermögensverhältnisse; seine Verflossenen weigerten sich, vor einem deutschen Gericht zu erscheinen. Kurzum: Es häuften sich schließlich die Probleme in einer geradezu einmaligen Weise. Trotzdem wurde der Mann zu einer vieljährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Als nach der Verhandlung der Verteidiger den Berichterstatter, also den Richter, der das Urteil schriftlich begründen musste, auf dem Gang traf, sagte er zu ihm: „In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken! So ein Urteil begründen zu müssen, muss der reine Horror sein bei den vielen Problemen!“ „Ach,“ entgegnete der angesprochene Richter, „zerbrechen Sie sich nur nicht meinen Kopf! Rechtsprobleme kennen wir bei dieser Kammer überhaupt nicht; die lösen wir alle über das Tatsächliche!“ Daraufhin lachten beide von Herzen, weil auch der Anwalt sicher war, dass es sich um einen Scherz handelte.

Für Nichtjuristen sei hier zur Erläuterung ausgeführt: Man kann einen Sachverhalt so verkürzen oder gar entstellen, dass schwierige Probleme herausfallen. Es ist ein „nobile officium“, also eine vornehme Pflicht des Gerichts, so etwas nicht zu tun. Aber die Zeiten der Vornehmheit sind heutzutage leider vorbei.

 

Viele Anwälte haben, wie allgemein bekannt sein dürfte, unter dem gewaltigen Druck der Konkurrenz den Boden der Sachlichkeit verlassen; sie „profilieren“ sich, indem sie in Strafprozessen unsinnige Anträge stellen, die nichts anderes als Fallstricke sind, durch welche die Chancen in der Revisionsinstanz verbessert werden sollen. Den Anwalt interessiert nicht mehr so sehr, dass die Gerechtigkeit siegt, sondern dass er seinen Mandanten frei bekommt. Dies wissen natürlich die Richter und es bestärkt sie oft in ihrem aufgrund der Aktenlage vorgefassten Urteil, der Angeklagte sei schuldig. So geht ihr Bestreben hauptsächlich dahin, die Urteile so sicher wie möglich zu machen, auch wenn dies natürlich auf Kosten der Genauigkeit der Sachverhaltsdarstellung gehen muss.

Hierzu einige Beispiele: Ein Richter, frustriert über die nach seiner Ansicht nur prozessverschleppenden Anträge des Verteidigers, äußerte sich so: „Da wird sich der Herr Verteidiger aber wundern, was dann im Urteil über seine Entlastungszeugen steht, nämlich nichts! Denn ich werde nur kurz feststellen, dass seine Zeugen nichts Wesentliches aussagen konnten.“

 

Eine Zeugin erkennt in einer Verhandlung einen Sittlichkeitsverbrecher „ziemlich sicher“ wieder. Darauf äußert der Vorsitzende: „,Ziemlich sicher’ hilft uns nicht weiter. Wir müssen hier ,mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit’ arbeiten. Dieser Begriff bedeutet aber auch nicht völlige Sicherheit. Verstehe ich Sie richtig, wenn Sie diese Sicherheit meinen?“ Daraufhin die Zeugin: „Ja!“ Sie ist sich, als sie mit dieser plötzlichen Frage konfrontiert wird, der Konsequenz ihrer Antwort gar nicht bewusst. Hätte der Vorsitzende gefragt: „Sind Sie sich so sicher, dass wir die Verurteilung allein auf Ihre Aussage stützen können?“ hätte die Antwort ganz bestimmt anders gelautet.

Nun gibt es freilich Anwälte, die versuchen, ihrem Mandanten aus einem solchen Dilemma herauszuhelfen, indem sie die wörtliche Protokollierung verlangen. Derartige Anträge werden beim Landgericht in der Regel mit der Begründung „abgeschmettert“, dass nach der Strafprozessordnung kein Wortprotokoll geführt werden muss.

Meist sind es aber die kleinen Nuancen, die einer Sachverhaltsdarstellung eine trügerische Sicherheit geben können, die ihr eigentlich gar nicht zukommen dürfte. Lässt man beispielweise ein „wohl“ in einer Zeugenaussage weg, sieht sie gleich ganz anders aus: Sagt eine Zeugin beispielsweise: „Ich habe den Angeklagten wohl am 17.5.99 im Gasthaus gesehen“, so besagt das nicht viel. Wenn man aber das Wort „wohl“ streicht, hat diese Aussage ein ganz anderes Gesicht und eine viel stärkere Aussagekraft.

Einen so fairen Satz wie den folgenden wird man so leicht kaum wieder in einem Urteil finden: „Das Ergebnis der Beweisaufnahme war genauso, wie es sich das Gericht nicht gewünscht hätte: Der Verteidiger konnte für seinen Antrag auf Freispruch eine ganze Reihe von gewichtigen Gründen anführen. Wenn sich das Gericht dennoch zu einer Verurteilung entschlossen hat, so waren dafür folgende Erwägungen maßgebend.........“

So ist es ebenfalls kein Wunder, dass ein Anwalt nach einem der spektakulärsten Entführungsfälle, die je in Deutschland vor Gericht verhandelt wurden, in die Fernsehkameras folgende Sätze sprach: „Der Prozess ist vom Vorsitzenden mit großer Fairness geführt worden. So etwas ist bei uns selten. Ich weiß, wovon ich rede.“ Sind es nicht traurige Zeiten, wenn ein Verteidiger sich so äußert? Müsste nicht ein Ruck durch die Richterschaft gehen, wenn sie so etwas in der „Tagesschau“ sehen und hören muss? Aber die Richter pflegen solche Kritik mit Bemerkungen abzutun wie: „Da will sich anscheinend einer wieder einmal auf unsere Kosten profilieren.“

 

Wenn die Anwälte der Umfrage, ob die Gerichte den Sachverhalt richtig erfassen, nur zu 50 % zustimmen konnten, so haben sie dabei allerdings nicht in erster Linie solche Fälle wie die geschilderten im Auge. Derartige „Verfärbungen“ des Tatbestands sind zwar schlimm, fallen aber wohl zahlenmäßig nicht so sehr ins Gewicht. Vielmehr ist die Schlamperei, die immer mehr um sich greift, in der Regel die Ursache dafür, dass die Gerichte von unrichtigen Tatsachen ausgehen. Einen Sachverhalt richtig erfassen heißt nämlich, dass ein Richter oft unheimlich viel Zeit und Mühe aufwenden muss, um den Akteninhalt, der manchmal mehrere hundert Seiten betragen kann, genau zu kennen. Im Zivilprozess beispielsweise muss er wissen, was die eine Partei behauptet hat, was die andere angegeben hat, auf welcher Seite dies steht, welche rechtlichen Schlussfolgerungen er daraus zieht usw. Wie unterschiedlich sorgfältig die Richter arbeiten, kann man gut erkennen, wenn man ihre Notizen anschaut, die sie nicht selten in die „ausgehobenen Aktenteile“ einlegen: Der eine arbeitet vorbildlich und hat ein genaues Konzept, in dem er auf vielen Seiten die Behauptungen der Parteien mit Blattzahlen einander gegenüberstellt, so dass er mit einem Blick erkennen kann, wo Übereinstimmungen bestehen und wo nicht; weitere vielfältige Bemerkungen schließen sich an.

Andere Richter meinen, sich diese Arbeit sparen zu können, beispielsweise indem sie nur Zettel mit Stichworten in den Akt legen, um die Fälle überhaupt auseinanderhalten zu können. In einem Akt befand sich der zweifelhafte Vermerk: „Leck-mich-am-Arsch-Fall“, was dem Akteninhalt nach nur damit zu erklären war, dass die eine Partei das rechtliche Ansinnen der anderen mit dem Götz-Zitat beantwortet haben soll. Mit derartigen Stichwort-Zetteln wird man kaum eine saubere juristische Arbeit leisten können.

Geradezu erschütternd können Urteile sein, die Amts- und Landgerichte in letzter Instanz erlassen:

So entscheiden die Amtsgerichte in Bagatellsachen abschließend, ohne dass also noch ein Rechtsmittel möglich wäre. In derartigen Prozessen, so schimpfen viele Anwälte, machen manche Richter, was sie wollen: Sie sparen sich beispielsweise den notwendigen Zeitaufwand für eine Beweisaufnahme, indem sie ihre Überzeugung auf den bloßen Akteninhalt stützen (was allenfalls in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommen kann).

Ähnlich verhält es sich oft mit zivilrechtlichen Berufungsurteilen der Landgerichte: Da gibt es nicht selten Fälle, in denen das Amtsgericht in erster Instanz einen prozessentscheidenden Gesichtspunkt übersehen hat. Wenn nun deshalb Berufung eingelegt wird, kann es vorkommen, dass das Landgericht ein solches Rechtsmittel trotzdem ohne jede Begründung verwirft. Das Landgericht hat zwar nach dem Gesetz die Möglichkeit, dies zu tun. Aber das ist nur für die Fälle gedacht, in denen der Rechtsstreit in erster Instanz erschöpfend behandelt wurde und das Landgericht der Ansicht des Amtsgerichts beitritt. Das Gesetz ist jedoch kein Freibrief in dem Sinne, wie es von einem Richter in der Verhandlung einmal interpretiert wurde: „Wir können machen, was wir wollen, denn über uns ist nur der blaue Himmel.“ Und so machen sie es dann auch gelegentlich.

Vielleicht sollte wieder einmal mit einem Beispielsfall gezeigt werden, dass Oberflächlichkeit manchmal sogar eine schönfärbende Umschreibung dessen ist, was wirklich bei der Justiz vorkommen kann: Die Landgerichte sind häufig mit Haftbeschwerden befasst. Da fast jeder, der in U-Haft genommen wird, Beschwerde einlegt, entledigen sich die Richter dieser Routinearbeit mit Formblattbeschlüssen, durch welche die Haftbeschwerden in der Regel „aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses (gemeint ist der Haftbefehl) verworfen“ werden. Als nun ausnahmsweise einmal das Landgericht selbst auf eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin einen Haftbefehl erlassen hatte, gegen den Beschwerde eingelegt wurde, verwarf dasselbe Landgericht das Rechtsmittel ebenfalls durch den erwähnten Formblattbeschluss, ohne dass einer der befassten Richter gemerkt hatte, dass man über seinen eigenen Haftbefehl zu Gericht saß. Es ist als sicher anzunehmen, dass keiner der drei Herren auch nur einen Blick in die Akten geworfen hat, sonst hätte er den Missgriff bemerkt und die Beschwerde an die höhere Instanz weiter geleitet.

Ähnlich dürfte es zugegangen sein, als eine Klage von einem Amtsgericht ohne die notwendige Beweisaufnahme verworfen wurde. Als der Anwalt des Klägers Berufung einlegte, wobei er sogar das Wort Rechtsbeugung verwendete, verwarf das Landgericht das Rechtsmittel ohne jede Begründung.

Vielleicht glaubt mancher Leser, dass es sich bei den erwähnten Fällen um reine „Ausreißer“ bzw. Ausnahmeerscheinungen handeln würde. Doch leider muss man bei genauer Betrachtung feststellen, dass so etwas durchaus nicht selten ist:

 

Ein junger Mann beobachtet, wie ein Schlägertyp einen anderen jungen Mann verprügelt. Allein von dem Wunsch getrieben, Frieden zu stiften, geht er mutig dazwischen; dabei wird er selbst geschlagen und erheblich verletzt. Er wehrt sich nach Kräften und verpasst dem Schläger ein blaues Auge. Prompt wird er von dem Schläger auf Schmerzensgeld verklagt. Da der Rechtsanwalt des verklagten jungen Mannes keine Möglichkeit sieht, die Notwehrlage zu beweisen, erhebt er Widerklage ebenfalls auf Schmerzensgeld. Der Amtsrichter liest offenbar nur die halbe Akte und verurteilt nur den bedauernswerten Streitschlichter zu einem Schmerzensgeld von mehreren tausend DM, wobei er der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgend zu recht annimmt, dass derjenige schadensersatzpflichtig ist, der zuschlägt und seine Notwehrlage nicht beweisen kann. Er übersieht aus mangelnder Sorgfalt zum großen Nachteil für den Beklagten, dass dieser Widerklage erhoben hatte, und äußert bei der Urteilsverkündung, der junge Mann müsse, um zu seinem Recht zu kommen, selbst eine Schmerzensgeldklage erheben; dabei stellt er in Aussicht, dass er ihm dann denselben Betrag zusprechen würde. Der junge Mann legt Berufung ein, um eine Entscheidung über seine bereits erhobene Widerklage zu erreichen. Aber das Landgericht verwirft diese Berufung ohne jede Begründung. Man hat anscheinend keine Lust, sich näher mit dem Fall zu befassen. Wenn die Politiker sich beklagen, dass die Hilfsbereitschaft der Menschen so sehr abnimmt, liegt dafür besonders in solchen Urteilen die Hauptursache. Sie sind keine Ausnahme, sondern leider Teil des Justizalltags. Warum ist dies so? Weil die notwendige Kontrolle fehlt! Man sollte einmal eine Kommission damit beauftragen, die Verfahren zu durchleuchten, die beim Amts- oder Landgericht sofort rechtskräftig abgeschlossen werden. Das Ergebnis würde erschütternd sein.

 

Hartgesottene Juristen werden einwenden: „Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne.“ Oder: „So etwas kann halt bei dem Massenbetrieb vorkommen.“ Doch der Bürger wird hier bestimmt einen weniger laxen Standpunkt einnehmen und mit Recht verlangen, dass exakter gearbeitet werden muss.

Dass die Richter selbst früher strengere Maßstäbe an sich und ihre Arbeit angelegt haben, soll hier mit einer kleinen Begebenheit illustriert werden, die sich in der heutigen Zeit wohl kaum wiederholen würde:

In einer Pressesache hebt das Revisionsgericht ein Urteil des Amtsgerichts auf. Der Amtsrichter, der sich nun nach der Zurückverweisung mit der Sache zu befassen hat, ist verärgert über die Haarspalterei, die das höchste Gericht in seiner Entscheidung betrieben hat. Er stellt zu seiner „Freude“ fest, dass dem Revisionsgericht ein schwerer Fehler unterlaufen ist. Es ist im vorliegenden Fall übersehen worden, die Angelegenheit eilig zu behandeln, um eine Verjährung zu verhindern. Der Amtsrichter schreibt daher „scheinheilig“ an das höchste Gericht, er könne dem Akt nicht entnehmen, dass die Verjährungsfrist rechtzeitig unterbrochen wurde; er bitte deshalb um Auskunft, ob beim Revisionsgericht noch irgendwelche Vorgänge liegen, aus denen sich eine Unterbrechung ergebe; er könne sich nämlich nicht vorstellen, dass das Gericht, das sich so besonders ausführlich mit der Sache befasst habe, einen so schlichten Punkt wie den der Verjährung übersehen habe. Dieses Schreiben muss wie eine Bombe eingeschlagen haben, denn am nächsten Tag reichte der zuständige Sachbearbeiter des Revisionsgerichts sein Pensionierungsgesuch ein, was sich natürlich wie ein Lauffeuer in der gesamten Justiz herumsprach.

 

Auch kleine Versehen der Justiz sind geeignet, einen Menschen zu ruinieren, wie ein Fall zeigen soll: Rechtsradikale haben nach einem verlorenen Fußballspiel der deutschen Nationalmannschaft Jagd auf Ausländer gemacht und den portugiesischen Bauarbeiter Nuno Laurenco erschlagen. Das Landgericht Leipzig hat die Tat milde als Körperverletzung geahndet und die Täter noch dazu von den Kosten des Verfahrens freigestellt. Die Witwe allerdings, die auf Wunsch des Gerichts sogar Zeugen aus Portugal stellte und vom Vorsitzenden immer wieder die Versicherung hörte, alle ihre Kosten würden bezahlt, bekam nichts. Das Landgericht hatte nämlich vergessen, über die Erstattung der Nebenklagekosten zu entscheiden. Eine verzweifelte Frau, die miterleben muss, wie der gewaltsame Tod ihres Mannes mit mildesten Strafen geahndet wird, bleibt also auch noch auf ihren Kosten sitzen, die sie auf 36000 DM beziffert. Welche Wut und grenzenlose Verzweiflung muss eine Frau in sich haben, die einerseits feststellen muss, dass sich die Richter große Sorgen um die finanziellen Verhältnisse der Täter machen und daher von einer Kostenaufbürdung absehen, und die andererseits erleben muss, dass sich von den drei Richtern kein einziger Gedanken um ihre finanzielle Zukunft macht. Ein typisches Beispiel einer Justiz, die leider zu oft nur den Täter, nicht aber das unschuldige Opfer im Blickfeld hat.

Wenn dann aber der Bundeskanzler einmal nach einer neuen Gewalttat Rechtsradikaler eine strenge Bestrafung fordert, tritt sofort der Vorsitzende des Richterbundes auf und protestiert ener-gisch, wobei er unangemessenerweise daran erinnert, dass im Nationalsozialismus ebenfalls auf die Justiz Einfluss genommen wurde.

Sollte sich jedoch ein Normalbürger einmal im Ton vergreifen und echtes oder vermeintliches Unrecht als „Gestapomethode“ geißeln – dann wird er sofort wegen Beleidigung bestraft.

Es verwundert nicht, wenn sich manche Richter von dieser Art von Justiz distanzieren und eine andere Gangart fordern und auch selbst praktizieren. Allerdings kann es ihnen dann passieren, dass sie, als Außenseiter abgestempelt, sich vielleicht mit Titulierungen wie „Richter Gnadenlos“ abfinden müssen und so auf fast hinterhältige Weise der Lächerlichkeit preisgegeben sehen.

Wenn jemand findet, im vorangehenden Teil seien ganz wenige Ausnahmefälle zu Unrecht groß herausgestrichen worden, sollte er sich einmal anhören, was beispielsweise der Leiter einer der größten Staatsanwaltschaften so sagt:

Er findet den Zustand der Justiz in Deutschland unerträglich und blickt neidvoll nach Frankreich, wo tatsächlich der Untersuchungsrichter der Staatsanwaltschaft unterstellt ist. Dies sei auch notwendig, meinte er, denn die Richter unterschrieben einfach alles, was ihnen vorgelegt wird: Wenn man als Scherz beispielsweise an die Gerichte Strafbefehlsanträge schicken würde, in denen der betreffende Richter sein eigenes Todesurteil unterschreibt, so würde nach Auffassung dieses Oberstaatsanwalts die Hälfte dieser Strafbefehle unbesehen unterzeichnet werden.

Es gibt tatsächlich Richter, die Strafbefehle ohne nähere Prüfung unterschreiben mit der Begründung, dass sich der Verurteilte gefälligst selbst melden und Einspruch einlegen soll, wenn ihm etwas nicht gefällt. Weil das so ist, gibt es eine Reihe von sehr sonderbaren Strafbefehlen:

Ein Vater rudert mit seinem vierjährigen Sohn am Ufer eines Sees entlang. Damit dem Sohn nicht langweilig wird, ist der Vater auf eine tolle Idee verfallen: Er hat an einer Paketschnur einen kleinen aus einem Stückchen Draht selbst gebogenen Haken befestigt, natürlich ohne Wurm. Die Polizei schreitet ein mit dem für sie erfreulichen Ergebnis, dass sie schon wieder ein Vergehen nicht nur aufgedeckt, sondern auch sofort aufgeklärt hat. Sie schickt eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft und bemerkt noch vorsichtigerweise dazu: Von dort aus möge geklärt werden, ob versuchte Fischwilderei vorliege, denn immerhin seien die Fische auch gestört worden. Es findet sich tatsächlich ein Staatsanwalt, der einen Strafbefehl beantragt, und ein Richter, der ihn unterschreibt. Der ist allerdings schrecklich böse auf den Staatsanwalt, als gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt wird und der ganze Unsinn in aller Breite zur Sprache kommt. Der Richter faucht den Staatsanwalt an:

„Unglaublich - wegen so einem Mist einen Strafbefehl zu beantragen!“

Der Staatsanwalt gibt kühl zurück: „Aber Sie haben ihn doch unterschrieben!“

Bleiben wir bei der Fischwilderei, um noch ein Beispiel zu bringen: Die Polizei beobachtet an einem See einen Angler. Als sie den Mann überprüfen will, läuft dieser davon, lässt jedoch eine Tasche, in der sich ein Personalausweis befindet, zurück. Die Polizei meint nun, den Täter ganz einfach gefunden zu haben, und lädt ihn zur Vernehmung vor. Der Mann erklärt aber, ihm sei der Ausweis gestohlen worden; er habe nicht geangelt. Dennoch zeigt ihn die Polizei an und die Staatsanwaltschaft beantragt einen Strafbefehl, den der Richter offensichtlich unbesehen unterschreibt. In der Verhandlung beklagt sich der Mann bitter, dass er zu Unrecht beschuldigt werde und sich kein Mensch darum gekümmert habe, seine Angaben über den vor kurzem erfolgten Diebstahl des Personalausweises nachzuprüfen. Er wird sehr deutlich:

„Sagen Sie: liest hier eigentlich kein Mensch die Akten?“ Der Richter schimpft natürlich wie so oft auf die Schlamperei der Ermittlungsbehörden, die den Einwendungen des Angeklagten nicht nachgegangen sind. Dabei sollte er sich an die eigene Nase fassen, denn er hätte in einem so unzureichend recherchierten Fall den Strafbefehl gar nicht unterschreiben dürfen, sondern hätte die Akten zu weiteren Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft zurückgeben müssen, die dann ihrerseits die Polizei mit den Nachforschungen beauftragt.

 

Übrigens werden zu allen diesen Fällen keine Aktenzeichen angegeben, wie dies bei wissenschaftlichen Arbeiten üblich ist, denn es handelt sich hier um eine Beschreibung der Justiz an Hand von Fällen, die dafür symptomatisch sind. Es soll aber vermieden werden, dass über das Aktenzeichen einzelne Justizangegehörige bloß gestellt werden, die im Grunde genommen sich nur so verhalten haben, wie es leider zu viele tun.

Was sich immer wieder aus allen diesen geschilderten Fällen deutlich offenbart, ist, dass im allgemeinen heute nicht mehr gerne gelesen wird und wenn doch, dann nur noch sehr oberflächlich. Unterhält man sich mit Richtern privat, wird man feststellen, dass sie eigentlich so gut wie nie über ein besonderes Buch diskutieren, das man unbedingt lesen sollte. Dagegen ist irgendeine Sendung im Fernsehen immer wieder ein gern angeschnittenes Gesprächsthema. Vielleicht lesen Richter deshalb ungern privat, weil sie es beruflich so viel tun müssen. Die berufliche Überfütterung mit Lesestoff führt wohl auch dazu, dass nur noch diagonal über die Zeilen gehuscht und vieles deshalb nicht mehr wahrgenommen wird.

Als ein Richter einmal einen Anwalt rügte, dass er in Prozessen oftmals etwas wiederhole, was er in früheren Schriftsätzen schon geschrieben habe, verteidigte sich dieser damit, er wolle unbedingt, dass sein ganz bestimmter Standpunkt auch wahrgenommen und bei der Entscheidung berücksichtigt werde.

Je oberflächlicher ein Akt gelesen wird, umso weniger wird natürlich vom wirklichen Streitstoff erfasst. Erfahrungsgemäß ist es beim diagonalen Lesen so, dass der Leser sich automatisch mehr dem widmet, was ihn interessiert. Eine Ansicht oder eine Behauptung, die ihm gefällt, wird er nachdrücklicher aufnehmen, als die Thesen und Meinungen eines anderen. Diese Art des Lesens ist eine der Ursachen dafür, dass die Gerichte nach Auffassung der Anwälte den Sachverhalt nur in 50% der Fälle richtig erfassen.

 

Woran liegt es nun, dass die Schlamperei ständig zunimmt? Schuld ist sicher in gewissem Maße die besondere Stellung des Richters: Er ist unabsetztbar und unversetzbar, gleichgültig ob er sorgfältig arbeitet oder nicht. Da ist natürlich die Versuchung für den einzelnen groß, „alle Fünfe gerade“ sein zu lassen. Schließlich kann er ja auch noch dazu seine Arbeitszeit nach seinem Ermessen frei einteilen. Je mehr Mühe er sich gibt, umso weniger Freizeit hat er also. Für einen großen Teil der Richter ist ihr Job so zur Teilzeitbeschäftigung geworden. Kürzlich äußerte ein Richter, jeder könne sein Arbeitspensum in einem halben Tag erledigen; wer länger brauche, sei entweder blöd oder ein Streber. Ein anderer sagte, er sei nur deshalb Richter geworden, weil er während seiner Referendarzeit an den verschiedenen Ausbildungsplätzen sich genau vergewissert habe, wie viel und wie lange gearbeitet wird; sein Ausbildungsrichter zum Beispiel sei kaum anzutreffen gewesen, habe also den gemütlichsten Job gehabt; und so gut habe er es auch einmal haben wollen.

Nun behaupten viele Richter auf den Vorwurf, dass sie nicht oft im Büro seien, sie würden zu Hause arbeiten. Das allerdings tut in Wirklichkeit kaum einer, warum auch? Im Büro hat er ja alles, was er braucht: seine Akten, seine Gesetzbücher und Kommentare, sein Telefon, seine Sekretärin und vor allem seine Ruhe, denn Frau und Kinder sind ja zu Hause.

 

Vielleicht wird mancher mit Recht einwenden, dass man doch ständig in der Zeitung von der völligen Überlastung der Justiz lesen kann. Es werden sogar schon Schwerverbrecher freigesetzt, weil die Gerichte nicht dazu kommen oder in der Lage sind, einen Prozess in der gesetzlichen Frist durchzuführen. Vor einiger Zeit musste in Brandenburg sogar ein Mörder aus diesem Grund freigelassen werden mit der Folge, dass er dann das Leben von Zeugen bedrohte.

Diese Vorfälle haben ihre Ursache nicht in erster Linie in der Überlastung der Justiz, denn wenn man in alten Statistiken blättert, stellt man mit Erstaunen fest, wie viel mehr früher von unseren Gerichten geleistet wurde. Auch dürften die heutigen Richter von ihrer Ausbildung her betrachtet nicht weniger tüchtig sein als ihre Vorgänger. Was sich allerdings zum Negativen verändert hat, ist die Art von richterlicher Dienstauffassung, unter der die Justiz und vor allem natürlich alle Betroffenen zu leiden haben. Die Richter jammern zwar ständig, dass sie zuviel mit Lappalien zu tun hätten. Aber es wäre doch eigentlich ihre Pflicht, eher ein paar Bagatellsachen liegen zu lassen und sich statt dessen um wirklich Wichtiges, nämlich die Verhaftung und Aburteilung von Schwerverbrechern zu kümmern. Jeder Mensch, der normal arbeitet, wird seine Arbeit danach einteilen, was wichtig ist und was nicht, was Aufschub verträgt und was liegen bleiben kann. Anders verfährt die Justiz aus naheliegenden Gründen: Es würde nämlich kaum jemanden interessieren, wenn beispielsweise ein Rechtsstreit über die zumutbare Lage eines Misthaufens oder über die Zulässigkeit von Kuhglockengeläute um einige Zeit verschoben wird, weil z.B. ein Mordprozess vorgezogen werden muss.

 

Es beschleicht einen unbefangenen Beobachter der Justiz schon ein sehr merkwürdiges Gefühl, wenn er sieht, dass Verfahren gegen Schwerverbrecher viel zu oft auf die lange Bank geschoben werden, während eine Prominenten-Ehescheidung wie im Fall Becker fast von einem Tag auf den anderen erledigt wird. Mit Staunen lesen wir auch, dass den Beckers das Trennungsjahr erspart blieb, da die beiden angeblich diese Zeit in ihrem Haus getrennt gelebt haben sollen: Vielleicht haben die Beckers ja schon für einen künftigen Schauspielerberuf geprobt, als sie sich noch ein halbes Jahr zuvor im Fernsehen als Traumpaar präsentierten, sich küssten und Boris seine Barbara als „Göttin“ bezeichnete? Ein normaler Beobachter der Justiz empfindet eine so unterschiedliche Behandlung der Verfahren als bloße Geschmacklosigkeit. Es wundert uns aber nicht, dass eine Reihe von Anwälten die Behandlung des Falles Becker zum Anlass genommen hat, um Anzeige wegen Rechtsbeugung zu erstatten.

 

Jedes Gericht erhält die Richter, die es für die Bewältigung des anfallenden Arbeitspensums benötigt. Hierfür gibt es den sog. Pensenschlüssel. Innerhalb des Gerichts werden die Aufgaben vom Präsidium an die einzelnen Richter verteilt. Dem Vernehmen nach geht die Verteilung so vor sich, dass jeder Richter natürlich lamentiert, er sei völlig überfordert; wenn man ihm trotzdem noch etwas aufbürde, müsse das dann eben einige Zeit liegen bleiben. An sich sollte man meinen, dass es auch bei der Justiz begeisterte, ehrgeizige Juristen gibt, die vorwärts kommen wollen und die bei solchen Gelegenheiten erklären, dass sie bereit sind, mehr als das Übliche zu leisten. Doch leider merken die Richter sehr schnell, dass ihre Beförderung viel mehr von anderen Verhaltensweisen und Erwägungen abhängt. Diese Erkenntnis wirkt sich natürlich nicht gerade günstig auf ihren Arbeitseifer und ihre Leistungsfähigkeit aus. Weil die Lage so desolat ist, verweigert jeder nach Möglichkeit jede zusätzliche Belastung, oft mit dem Hinweis auf irgendeine gesundheitliche Beeinträchtigung, die bei Stress zur Katastrophe ausarten könnte.

Wenn aber demgegenüber das Präsidium findet, ein Spruchkörper (beispielsweise eine Kammer oder ein Senat) müsse aus Gründen der Gerechtigkeit mehr belastet werden, dann erhebt sich die spannende Frage: Was geschieht? Wird diese Arbeit bewältigt oder nicht? Wenn nicht, ist den Präsidien klar, was passieren kann: Unter Umständen kommt ein Schwerverbrecher frei. Aber das nimmt man in Kauf, um den Politikern zu zeigen, wo die Belastungsgrenze liegt, die man zu akzeptieren bereit ist.

Es ist für den Außenstehenden mehr als erstaunlich, dass dieses zweifelhafte Verhalten nicht disziplinarrechtlich geahndet wird. Man könnte diese Vorgehensweise fast als Nötigung von Verfassungsorganen qualifizieren.

Wieso lässt sich eigentlich das Volk gefallen, dass seine Diener, zu denen auch die Richter gehören, am Wochenende nicht erreichbar sind mit der Folge, dass mühsam von der Polizei eingefangene Verbrecher wieder frei gelassen werden müssen, wie gelegentlich in der Zeitung zu lesen ist?

Überhaupt sollte man in einer Zeit wie der unsrigen einmal darüber nachdenken, ob es richtig ist, einen Beruf wie den des Richters an einen jungen Mann nach Bestehen des 2. juristischen Examens und womöglich einem kurzen Intermezzo bei der Staatsanwaltschaft zu vergeben.

Es wäre sicherlich besser, wenn sich der junge Mann erst einmal anderswo bewähren müsste, bevor er einen solchen Posten erhält. Warum soll ein Dienstanfänger nicht erst einmal mindestens ein Jahrzehnt als Angestellter Beachtliches leisten, bevor er einen Richterposten erhält? Früher war es üblich, dass die Assessorenzeit viele Jahre dauerte. Da musste einer schon lange sehr viel arbeiten, bis er sich schließlich einen ruhigeren Posten redlich verdient hatte. Als dann mit der Zeit der Staatsdienst immer weniger attraktiv wurde, weil man in der Wirtschaft mehr verdienen konnte, musste dieser Zustand geändert werden. Jetzt aber, wo sich der Trend umkehrt und viele junge Leute wieder einen sicheren Posten bevorzugen, könnte man durchaus zu den alten Bräuchen zurückkehren. Aber auch ein anderes Modell wäre denkbar: Man könnte das Amtsgericht als eine Art von Friedensgericht mit Angestellten als Richtern umgestalten. Natürlich erhebt sich dann ein fürchterliches Geschrei der Interessenverbände, insbesondere des Richterbundes. Aber Reformen sind nur gegen den Widerstand solcher Verbände möglich. Es gab beispielsweise auch einmal Zeiten, in denen Richter die Arbeit erledigten, die heute den zentralen Bußgeldstellen obliegt. Auch als seinerzeit diese Reform erfolgte, gab es genügend Leute, die den Untergang des Rechtsstaats kommen sahen.

 

Noch ein Modell wäre geeignet, die Leistungsfähigkeit der Staatsdiener etwas zu fördern: Parkinson, dem wir so viele Erkenntnisse über die Behörden und ihre Tätigkeit verdanken, schrieb einmal, dass in der österreichischen Justiz nie wieder so viele Urteile gefertigt wurden wie zu der Zeit, als jeder Richter für jede Entscheidung einen „Urteilsschilling“ erhielt. Warum soll also beispielsweise ein leistungsbereiter junger tüchtiger Richter, der 1 1/2 Pensen bearbeitet, nicht mehr verdienen können als ein höherrangiger, der gerade einmal sein normales Referat bewältigt?

„Ja, dann wird wohl noch mehr geschlampt!“ könnte man vielleicht einwenden. Aber dem ließe sich abhelfen, indem für jede aufgehobene Entscheidung wieder ein entsprechender finanzieller Abzug erfolgt. Weil man aber ideenlos auf den alten Zuständen beharrt, musste es zu so unerträglichen Verkrustungen kommen.

Der Mensch wächst zwar normalerweise an den Aufgaben, die ihm gestellt werden. Wenn er aber bei seiner Arbeit weitgehend auf seine Selbstkritik angewiesen ist und dazu noch seine Dienstzeit nach Gutdünken einteilen kann, so ist es fast schon vorprogrammiert, dass er früher oder später zum Schlamper wird. Er wundert sich nicht, wenn er nur einen Bruchteil der üblichen Dienstzeit braucht, sondern schreibt dies seiner Schnelligkeit und seinen besonderen Geistesgaben zu. Dass er vielleicht zu ungenau und oberflächlich arbeitet, wird er weder sich noch anderen eingestehen.

Weil die Verhältnisse offensichtlich immer schlimmer werden, bleibt den Opfern der Justiz oft nichts anderes übrig, als den Landtag anzurufen. Es sind schauerliche Geschichten, die da berichtet werden: Ein Beispiel aus einer dpa/lby Meldung vom 27.6.00. Demnach hat sich Rechtsanwalt Rieger an den Bayerischen Landtag mit folgender Petition gewandt: Er verlangt Schadensersatz im Namen einer Interessengemeinschaft von 200 Opfern, weil ein Angeklagter unter den Augen der Staatsanwaltschaft seine verbrecherische Tätigkeit fortgesetzt habe; unverkennbar seien die ermittelnden Beamten von Polizei und Staatsanwaltschaft weder willens (!) noch in der Lage gewesen, dem Täter das Handwerk zu legen.

Dass Beamte dazu neigen, langsam und faul zu sein, ist die überwiegende Überzeugung der Bürger. Aus diesem Grund gibt es Witze wie den folgenden: Was ist die kostbarste Flüssigkeit? Der Schweiß von Beamten!

Dass also Beamten vorgeworfen wird, sie täten zu wenig, ist nicht neu. Dass ihnen aber in der Petition sogar der Wille abgesprochen wird, ihre Pflicht zur Verbrechensbekämpfung zu erfüllen, ist wohl noch nie da gewesen, obwohl es eine ganze Reihe von Fällen gibt, wo ein solcher Vorwurf durchaus als berechtigt erscheinen könnte: So brauchte beispielsweise die Staatsanwaltschaft Schwerin 9 Jahre, um Anklage wegen eines Brandanschlags auf ein Asylantenheim zu erheben.

 

Um aber in Bayern zu bleiben, wo es nicht schwer ist, fündig zu werden: Beim Schweinemastskandal musste sogar der bayrische Justizminister Ende Januar 2001 einräumen, dass das in dieser Sache anhängige Strafverfahren „möglicherweise nicht immer mit dem erforderlichen Nachdruck“ betrieben wurde. Als ferner Bobachter der bayrischen Justiz kann man sagen, wenn ein bayrischer Minister sich zu einem solchen Eingeständnis durchringt, muss schon Unglaubliches passiert sein: Seit 1995 beschäftigte ein bestimmter Tierarzt die bayrischen Justizbehörden, weil er unerlaubt Medikamente an Bauern abgegeben haben soll; er wurde aber viele Jahre lang nicht auf die Anklagebank gebracht (nicht einmal in erster Instanz!), sondern soll seinen schwungvollen, lukrativen Handel lustig weiter betrieben haben. Wie viele Menschen werden dafür wohl mit ihrem Leben bezahlen müssen? Die illegal vertriebenen Antibiotika wurden in Massen als Appetitanreger oder prophylaktisch an Schweine verfüttert; wenn Menschen von diesem Fleisch essen, nehmen sie diese Antibiotika mit in sich auf mit der Folge, dass diese Medikamente im Ernstfall kaum mehr Wirkung zeigen.

 

Übrigens wurde der für die Bearbeitung des Falles zuständige Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft, der in der CSU einen höheren Posten bekleidet, sofort zum Richter ernannt. Als die Opposition von einem Skandal sprach, stellte das Justizministerium die Angelegenheit so hin, als sei die Ernennung zum Richter eine Art von Strafversetzung, mit welcher der soziale Abstieg des Mannes verbunden gewesen sei, denn ein Gruppenleiter bei der Staatsanwaltschaft verdiene ein paar Mark mehr. Zu dieser abstrusen Argumentation ist zweierlei zu bemerken: Ein Staatsanwalt ist ein weisungsgebundener Beamter, der die Dienstzeit einhalten muss und nur Entscheidungen bei Gericht beantragt. Demgegenüber ist der Richter derjenige der entscheidet und absolut unabhängig ist. Für einen Staatsanwalt ist es also eine wesentliche Verbesserung seiner Lage, wenn er Richter wird. Wir haben auch nicht gehört, dass diesem Mann, der den Schweinemastskandal bei der Staatsanwaltschaft bearbeitet hat, tatsächlich die Zulage gestrichen wurde, die er bei seiner Ernennung zum Gruppenleiter automatisch erhalten hatte.

 

Ein alter Richter demonstrierte einmal den Niedergang der Moral im Gerichtssaal mit folgendem Beispiel: Sein Großvater habe als Vorgesetzter eines Richters zu entscheiden gehabt, ob es für einen Richter nicht standeswidrig ist, sich auf Verjährung zu berufen. Heute ist es für jeden Anwalt selbstverständlich, als erstes ohne jeden Skrupel die Frage der Verjährung zu prüfen, während diese Einrede früher so ähnlich gehandhabt wurde, wie die Morphiumspritze vom Arzt: Sie wurde nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen benutzt. Der Gipfel der Unverfrorenheit auf diesem Gebiet wurde einmal ausgerechnet von einem Lehrer erreicht. Dieser berief sich auf Verjährung, als ein Chefarzt eine Rechnung erst nach geraumer Zeit einklagte. Der Richter fragte den Lehrer, wie er dazu komme, Verjährung geltend zu machen: sei vielleicht die Operation nicht erfolgreich gewesen?

„Doch“, antwortete der Lehrer. „Der Mann hat meiner Frau sogar das Leben gerettet!“

„Und warum wollen Sie dann nicht zahlen?“ fragte der Richter.

„Der Arzt schaut, was er kriegen kann, also tue ich es auch.“

Nun mischte sich der Anwalt ein und rügte die Verhandlungsführung des Richters, indem er meinte, das Ganze sei für die Entscheidung völlig unerheblich. Der Richter erwiderte, für ihn sei nicht unerheblich, ob ein Mann um seinen verdienten Lohn gebracht werden soll; er machte dem Lehrer und dem Anwalt klar, dass natürlich an die Krankenkasse und die Beihilfestelle die zu Unrecht bezahlten Beträge zurückzuerstatten seien; warum sollte also nicht besser die berechtigte Forderung des Chefarztes anerkannt werden?

Was mit diesem Beispiel demonstriert werden soll, ist, dass ein Richter einfach formalistisch vorgehen kann, indem er die Einrede der Verjährung durchgreifen lässt und den Prozess auf diese Weise schnell erledigt. Er kann aber auch versuchen, dem Anstand zum Durchbruch zu verhelfen. Das kostet halt ein bisschen Zeit, aber die meisten Menschen haben heute keine Zeit mehr. Deshalb nimmt die Tendenz zu, Verfahren schnell gesetzestechnisch einwandfrei so zu erledigen, dass dabei oft das auf der Strecke bleibt, was die Leute vom Gericht erwarten, nämlich die Gerechtigkeit. Die Gerichte haben im übrigen auch eine wichtige Erziehungsfunktion: Wenn sie sich nicht dem Niedergang der Moral entgegenstellen, wer soll es sonst tun?

 

Wie sehr sich doch das Bild des Richters im Laufe der letzten Jahrzehnte geändert hat. So erzählte einmal ein alter Richter, sein Vater, der Jurist war, habe einmal scherzhaft zu seiner Frau gesagt, ob sie nicht Lust hätte, einen Pelzmantel zu stehlen. Das hätte zwei nicht zu verachtende Vorteile: Wenn sie nicht erwischt wird, habe sie ein Wertstück, das sie sich sonst nicht leisten könnte; wenn sie aber ertappt werde, könnte er endlich in Pension gehen, weil er dann für die Justiz nicht mehr tragbar wäre. Und wie ist es heute? Da finden Richter nichts dabei, selbst Straftaten zu begehen, und wenn sie dabei gestellt werden, haben sie allenfalls ein Disziplinarverfahren zu erwarten, das aber kaum je mit der Entfernung aus dem Dienst endet: Als zwei junge Richter sich darüber unterhielten, dass sie beim Hausbau ein an sich nicht nötiges Arbeitszimmer, das sie auch gar nicht als solches nutzen wollten, steuerlich absetzen würden, warnte sie ein älterer Kollege. Er sagte, für ihn sei es selbstverständlich, dass sich ein Richter nichts zu schulden kommen lasse. Als sich der ältere Kollege entfernt hatte, meinte der eine Richter: „Ein alter Pharisäer!“ Der andere ergänzte: „Oder ein moralischer Methusalem!“ Die beiden waren sich darüber einig, dass jeder, also auch sie das Recht hätten, bei der Steuer genauso zu mogeln, wie es die Geschäftsleute im Hinblick auf ihre undurchsichtigeren finanziellen Verhältnisse noch viel dreister machen.

 

Junge Richter fühlen sich als Menschen wie du und ich; sie wollen auch einmal für sich das Recht in Anspruch nehmen, über die Stränge schlagen zu dürfen. Man sollte aber meinen, dass jemand, der so gut besoldet wird und eine solche Stellung inne hat, auch ohne Straftaten sein Leben fristen kann und eigentlich das Bedürfnis bzw. den Ehrgeiz haben sollte, ein Beispiel für Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit zu sein. Wie peinlich wäre es doch auch für einen Richter, wenn er sich plötzlich wie ein kleiner dummer Ladendieb bei der Polizei zur Vernehmung einfinden müsste.

Natürlich ist es auch in früheren Zeiten vorgekommen, dass Richter Straftaten begangen haben. Aber das waren doch eher so menschliche Delikte, wie sie im „zerbrochenen Krug“ von Heinrich von Kleist oder im „Maulkorb“ von Heinrich Spoerl geschildert werden.

 

 

 

 

4.

 

 

Manchmal besteht zwischen Rechtsprechung und Rechthaberei ein Zusammenhang, der meistens nur den Außenstehenden so richtig bewusst wird. Hierzu ein paar Beispiele:

 

 Ein junger Mann antwortet auf die Frage, wie es seinem Vater, der von Beruf Polizeibeamter ist, geht: „Schlecht! Er liegt im Bett, weil er so starke Magenbeschwerden hat. Er hat heute morgen von seiner Polizei-Dienststelle aus eine Geschwindigkeitskontrolle durchführen müssen und ausgerechnet einen Richter und einen Lehrer erwischt, die viel zu schnell gefahren sind. Die beiden wollten einfach nicht einsehen, dass sie schuldig waren. Bei der Diskussion darüber haben sie meinen Vater so arrogant und anmaßend von oben herab behandelt, dass ihm das Ganze stark auf den Magen geschlagen hat. Nun hat er sich zu Hause hinlegen müssen.“

 

 Eine Frau kommt vom Kaffeekränzchen nach Hause und berichtet ihrem Mann: „Du, die Frau X.Y. hat es wirklich nicht leicht. Ihr Mann ist Richter und duldet auch daheim keinen Widerspruch.“

 

 Ein Anwalt berichtet nach einer Verhandlung einem Kollegen: „So ein Pech! Unser Zeuge ist nicht gekommen, nur der vom Gegner; da haben wir bei diesem Richter sicher schon verloren!“ Auf den tröstenden Einwand des Kollegen, dass der ausgebliebene Zeuge dann eben in der nächsten Verhandlung erscheinen werde und der Richter von ihm einen frischeren Eindruck bekommt, erwidert der Anwalt: „Es ist genau umgekehrt: Der Richter hat sein Urteil nun schon aufgrund dieser einen Aussage im Kopf fertig; vielleicht hat er es schon diktiert. Da kann unser Zeuge nun nachher sagen, was er will; es nützt nichts mehr. Dieser Richter ist wie ein Rennfahrer, der mit Volldampf auf eine Betonwand zurast und keine Warnungen mehr hören kann und will.“

 

---

 

Bei einer wissenschaftlichen Untersuchung wurde festgestellt: Der Richter ist unter den arbeitenden Menschen derjenige, der am frühesten arbeitsunfähig wird. Berufe verschleißen den Menschen in verschiedener Weise: Der Maurer zieht sich durch das ständige Aufheben und Tragen der Ziegel einen Wirbelsäulenschaden zu. Beim Richter ist es natürlich anders: Durchschnittlich nach 10 Jahren - so die Untersuchung - kommt ihm die Plausibilitätskontrolle abhanden. Eigentlich gibt es den Wunschtyp eines alten Richters, den sich die Laien gerne vorstellen, nur selten: Ein würdevoller, abgeklärter „Kadi“, der mit Weisheit, Phantasie, Einfühlungsvermögen und Einfallsreichtum in jedem noch so undurchsichtigen Fall den Durchblick behält, existiert fast nur noch im Märchen.

Weil das so ist, äußerte einmal ein bekannter, erfahrener alter Anwalt: Man sollte auch in den aussichtslosesten Fällen den Instanzenweg beschreiten: Man hat nämlich durchaus gute Chancen, dass eine Fehlentscheidung ergeht; vielleicht passiert es auch, dass ein wichtiger Zeuge stirbt oder es kann sich einmal die Rechtsprechung ändern; schließlich kann es auch sein, dass man selber mit seiner Sicht der Dinge schief liegt.

 

Nur wenige Richter sind in der Lage, sich sozusagen über sich selbst zu erheben und sich auch noch nach vieljähriger Dienstzeit kritisch zu beobachten, um sich immer wieder aufs neue zu fragen: „Liege ich wirklich mit meiner Meinung richtig?“ Wie wenig objektiv Richter manchmal urteilen, wurde immer wieder in Untersuchungen festgestellt. So sind beispielsweise die Urteile des Mietgerichts einer Großstadt überprüft worden. Man wollte herausfinden, ob Richter, die selbst Mieter sind, anders urteilen als diejenigen, die ein Haus besitzen - und siehe da: Man konnte bei jedem Richter „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ sagen, zu welcher Kategorie er gehört; das ließ sich klar aus seinen Urteilen herauslesen. Nur bei einem Richter wusste man nicht so recht Bescheid. Es ergab sich bei näherem Nachfragen, dass er längere Zeit Mieter gewesen und dann in ein eigenes Haus gezogen war.

Weil die Richter oft schon zu Beginn der Verhandlung felsenfest von der Richtigkeit ihres Standpunkts überzeugt sind, sehen sie auch keine Notwendigkeit mehr, darüber in der Verhandlung zu diskutieren. Sie sitzen hinter ihrem Tisch in der Regel auf einem Podest, also über dem gewöhnlichen Volk und den Anwälten und fühlen sich nicht selten viel zu erhaben, um sich in die Niederungen einer Diskussion mit denen einzulassen, die in einiger Distanz unter ihnen sitzen.

Das gesetzlich vorgeschriebene Rechtsgespräch kommt immer mehr aus der Mode: Eigentlich sollen die Richter zu Beginn einer zivilrechtlichen Verhandlung in den Sach- und Streitstand einführen. Dies geschieht allerdings in der Regel nicht oder nicht richtig. Vielleicht hört man, wenn man Glück hat, ein paar nichtssagende Floskeln wie: „Ein schwieriger Fall. Die Kammer hat sich noch kein abschließendes Urteil gebildet. Wollen Sie sich nicht hälftig einigen?“ Die Gerichte scheuen meistens davor zurück, eine bei ihrer Vorbereitung des Termins intern diskutierte Rechtsfolge den Parteien mitzuteilen. Dann wäre es nämlich nötig, mit den Anwälten zu debattieren. Das kostet nicht nur Zeit, sondern könnte womöglich auch zu Tage fördern, dass der Anwalt besser Bescheid weiß als der Richter, weil er sich beispielsweise intensiver vorbereitet hat. Also spart man sich lieber das Ganze. Ein großer Teil der Richter meint übrigens überraschenderweise, ein Rechtsgespräch sei deshalb unzulässig, weil dadurch der Eindruck erweckt wird, als sei die Entscheidung unzulässigerweise schon vor der Verhandlung gefällt worden. Was soll aber dann überhaupt der Sinn einer Verhandlung sein, wenn die Richter nur noch wie die „Ölgötzen“ dasitzen und ihren Standpunkt für sich behalten. Ein Richter, der wirklich etwas kann und Autorität hat, wird eine Diskussion nicht scheuen, sondern er wird wissen, dass ein Standpunkt, der auch einer intensiven Diskussion standhält, richtiger sein muss als einer, der nicht durch diese Feuertaufe gegangen ist.

Weil das Rechtsgespräch bei Gericht nicht den Stellenwert genießt, der ihm nach dem Gesetz eigentlich zukommen muss, sind alle Bestrebungen gefährlich, die darauf hinauslaufen, dass ein neuer Vortrag in der zweiten Instanz durch eine Gesetzesänderung eingedämmt werden soll. In sehr vielen Fällen wissen die Anwälte und Parteien erst aus dem Urteil, was sie eigentlich hätten vortragen müssen und auch leicht gekonnt hätten, um den Prozess vielleicht doch noch zu gewinnen. Nicht selten werden dadurch Rechtsmittel geradezu provoziert. Kein Anwalt liest gerne Urteile, die im Klartext lauten würden: „Wenn du dein Handwerk als Rechtsanwalt besser verstanden hättest, hättest du vortragen müssen, dass...“. Selbstverständlich muss man als Anwalt – nicht nur aus haftungsrechtlichen Gründen – gegen solche Urteile Berufung einlegen sondern auch deshalb, damit das Renommee der Kanzlei keinen Schaden nimmt. In solchen Fällen müssen Mandanten, die womöglich die Nase vom Streiten längst voll haben, dazu überredet werden, Entscheidungen anzugreifen, die sie sonst hätten auf sich beruhen lassen. So verursacht die Justiz groteskerweise einen nicht geringen Teil ihrer vielen Arbeit selbst. Dies sollte sie sich einmal symbolisch vor ihre „verbundenen“ Augen halten, bevor sie wieder einmal über die gesteigerte Streitlust der Bürger klagt.

 

Wer jahrelang bei der Justiz arbeitet, läuft Gefahr abzustumpfen. Das zeigt sich bei der Tätigkeit, die zu den schwierigsten und bedeutsamsten Aufgaben eines Richters gehört, nämlich bei der Beweiswürdigung. Gerade auf diesem Gebiet kommt es zu unglaublichen Vorkommnissen:

 

Ein Anwalt schimpft erbost nach einer Verhandlung: „Die sind so blöd da drinnen; die glauben alles, was mindestens zwei Zeugen stur und übereinstimmend aussagen, sogar wenn die einen so haarsträubenden Unsinn behaupten würden wie: Der Mond ist schwarz und scheint am Tag.“

 

Der Fall Sebnitz hat uns allen vor Augen geführt, mit welcher Leichtgläubigkeit vorschnelle Urteile gefällt werden, leider nicht nur von den Ermittlungsbehörden, sondern auch vom zuständigen Gericht. Zur Erinnerung: In Sebnitz ist ein 6-jähriger Junge in einem Becken des dortigen Schwimmbades ertrunken. Zunächst war das Ermittlungsverfahren eingestellt worden. Dann meldeten sich nach langer Zeit Bekannte der Eltern als Tatzeugen, die - wie sich hinterher herausstellte - für ihre Aussage auch noch Geld erhalten hatten. Sie behaupteten auf einmal in einer schriftlichen Aussage, der Junge sei im Schwimmbad von Rechtsextremen vor den Augen von Hunderten Sebnitzer Bürgern ertränkt worden: Erst hätten die Täter den Jungen zu einem Kiosk geschleppt, dann hätten sie ihm etwas eingeflößt und einen Elektroschocker benutzt; schließlich hätten sie ihn zum Schwimmbecken geschleift und hineingeworfen; dort seien sie auf dem Jungen herumgesprungen, bis dieser tot gewesen sei. Obwohl die Unglaubhaftigkeit solcher Aussagen eigentlich offensichtlich sein müsste, erholte die Staatsanwaltschaft ein kriminologisches Gutachten über die Glaubwürdigkeit dieser Bekundungen, anstatt selbst durch akribische Ermittlungen den Sachverhalt aufzuhellen. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass sich die Glaubwürdigkeit der schriftlichen Aussagen nicht ausschließen lasse. Dann wurden die drei angeblichen Tatzeugen zur richterlichen Vernehmung vorgeladen mit dem Erfolg, dass nur einer erschien. Die beiden anderen wurden zur Vernehmung von der Polizei zwangsweise vorgeführt. An sich hätten deshalb schon bei jedem einigermaßen interessierten Ermittlungsbeamten sämtliche Alarmglocken schrillen müssen. Hinzu kam, dass sich die Zeugen in diverse Widersprüche verstrickten, aber diese wurden damit „ausgebügelt“, dass den Zeugen ihre früheren schriftlichen Aussagen vorgehalten wurden. Man fragt sich aber, was beispielsweise von einem Zeugen zu halten ist, der erst dem Ermittlungsrichter erzählt, er habe überhaupt nichts gesehen, und aus dem dann unter Vorhalt der schriftlichen Aussage das Gegenteil „herausgekitzelt“ wird. Obwohl das gerichtsmedizinische Obduktionsgutachten bei dem Jungen keinerlei Gewalteinwirkung festgestellt hatte und demnach die Zeugenaussagen insoweit eindeutig falsch waren, reichte dieser widersprüchliche Unsinn der Zeugenaussagen aus, um drei Haftbefehle zu erlassen und drei Menschen hinter Gitter zu bringen. Außerdem wurde ein ganzer Ort vor aller Welt auf die Anklagebank gesetzt; sogar höchste Politiker kamen nach Sebnitz, um ihren Abscheu zu bekunden. Als die Wahrheit ans Licht gekommen war, reiste der Ministerpräsident selbst nach Sebnitz, um einen Millionenbetrag aus der Staatskasse als Wiedergutmachung für das Unrecht, das nun auf einmal angeblich die Presse diesem Ort angetan hatte, zu spenden. Dabei hatte die Presse eigentlich im wesentlichen nur das aufgegriffen, was die Justiz ihr an Informationen übermittelt hatte. Man hörte aber kein Wort der Kritik über die beteiligten Behörden. Ein Disziplinarverfahren gegen Beamte, die so leichtfertig mit der Freiheit von Mitmenschen umgehen, erwartet sowieso niemand, der mit den Verhältnissen vertraut ist.

In Sebnitz hatten die Verhafteten insofern Glück, als ein neues gerichtsmedizinisches Gutachten bestätigte, was man früher auch schon angenommen hatte: nämlich dass der Junge an Herzversagen gestorben war. Was wäre wohl aus den Justizopfern geworden, wenn das Ergebnis gelautet hätte: Tod durch Ertrinken?

Der Fall Sebnitz zeigt im übrigen eine Praxis, die bei der Justiz weitgehend üblich ist: Wenn sich bei der Aussage eines Zeugen Widersprüche zu seinen früheren Angaben zeigen, wird in der Regel so verfahren, dass dem Zeugen das alte Protokoll vorgehalten wird mit der Zusatzfrage: „Aber damals haben Sie doch alles noch besser gewusst, nicht wahr?“ Meistens bejaht der Zeuge diese Frage und im Urteil wird nur das als Aussage festgehalten, was der Zeuge schließlich gelten lassen wollte; von den Widersprüchen erfährt man nichts, noch weniger darüber, weshalb das Gericht dem Zeugen trotzdem Glauben geschenkt hat. Weil das Urteil revisionssicher sein soll, beschränkt man sich also lieber „auf das Wesentliche“.

Seltener (weil zeitraubender) erlebt man, dass der Vorsitzende des Gerichts den Zeugen zunächst einmal fragt, ob er sich dessen bewusst ist, dass er früher andere Angaben gemacht hat und wie er die Änderungen seiner Aussage erklären würde. Das wäre nicht nur interessant, sondern für die Wahrheitsfindung geradezu unerlässlich.

Es liegt nicht immer nur an der fehlenden Plausibilitätskontrolle, wenn gerade Richter Unglaubliches glauben. Manche gehen vielmehr den Weg des geringsten Widerstands und verfahren nach einem Motto, das einer von ihnen einmal so ausgedrückt hat: „Was die Zeugen auf ihre Kappe nehmen, ist ihr Problem; das Urteil ist mein Problem.“ Er wollte damit ausdrücken, dass er die Zeugenaussagen grundsätzlich als richtig akzeptiere. Tut ein Richter das nicht, kann er erhebliche Probleme bekommen.

Es gibt leider nicht viele Richter, die irgendwie spüren, dass an einer Aussage etwas nicht in Ordnung ist, und die mit viel Einfallsreichtum und Taktik irgendwie versuchen, die Wahrheit herauszubekommen: Ein Anwalt hatte einmal einen Gliedvorzeiger zu verteidigen, der den Tatvorwurf bestritt - sinnloserweise, wie es schien, denn als Belastungszeugin trat eine Nonne auf. Bei einer Gegenüberstellung mit weiteren fünf Vergleichspersonen hatte sie den Beschuldigten zweifelsfrei wieder erkannt. Jeder Anwesende war überzeugt, dass die Verhandlung nur kurz dauern würde. Doch zur allgemeinen Verwunderung hatte der Richter aus irgendeinem Grund Zweifel an der Aussage der Nonne. Er zögerte immer wieder, forderte den Angeklagten auf, direkt mit der Zeugin zu reden und zu versuchen, sie von seiner Unschuld zu überzeugen. Dann fragte er die Nonne sehr genau danach, wie man denn auf den Angeklagten als Täter gekommen sei. Dabei ergab sich, dass die Nonne dem Gliedvorzeiger heimlich vom Tatort aus in die Stadt gefolgt war. Als der Täter dann den Markt besuchte, bat sie einen Mann, ihn im Auge zu behalten, damit sie die Polizei rufen könne. Beim Eintreffen der Polizei sei der Täter zwar in einem Haus verschwunden gewesen, habe aber dort auf Grund ihrer Beschreibung von der Polizei ausfindig gemacht und festgenommen werden können. Der Richter fragte dann die Nonne, ob sie vielleicht den Mann kenne, den sie mit der Bewachung des Täters beauftragt habe. Sie verneinte, meinte aber, es könne sein, dass es der Sohn einer Marktfrau sei, weil sie ihn schon mehrmals auf dem Markt gesehen habe. Nun geschah etwas, was für jeden, der viel mit Gerichten zu tun hat, unbegreiflich sein wird. Der Richter ließ sich das Aussehen des Mannes genau beschreiben, unterbrach die Verhandlung und beauftragte die Polizei, den Mann ausfindig zu machen. Tatsächlich hatte die Polizei Erfolg. Der Mann wurde ermittelt und erschien zur nächsten Verhandlung als Zeuge. Er sagte aus, er sei sich völlig sicher, dass der Angeklagte nicht der Mann sei, den ihm die Nonne als Täter gezeigt habe. Man fragt sich sicherlich, was den Richter veranlasst hatte, Zweifel an der Täterschaft des Beschuldigten zu haben. Hellsichtig wird er ja wohl kaum gewesen sein. Aber er hatte das Gespür, das man für diesen Beruf braucht. Und er hat sich in diesem Fall so viel Arbeit gemacht, wie nach seiner Auffassung notwendig war, um die Tat richtig aufzuklären. Dabei hätte er es sich so einfach machen können: Die Aussage der Nonne hätte den meisten seiner Kollegen wohl gereicht, um diese Strafsache in einer Stunde erledigen zu können.

Bei allen negativen Erscheinungen, die es heute bei der Justiz gibt, soll nicht vergessen werden, dass viele Richter nicht nur gewissenhaft ihre Pflicht erfüllen, sondern auch wirkliche Könner in ihrem Beruf sind. Deshalb sei hier noch ein Fall vorgestellt, damit man sieht, wie es eigentlich bei der Justiz zugehen sollte: Einem Autofahrer wurde zur Last gelegt, durch Fahren auf der falschen Straßenseite einen Verkehrsunfall verursacht zu haben. Er hatte zwar seine Freundin zu seiner Entlastung benannt, doch standen ihr als Zeugen nicht nur der Unfallgegner und seine Beifahrerin gegenüber, sondern die Polizei hatte auch die Unfallspuren gesichert und in einer Skizze festgehalten. Demnach war er eindeutig schuldig, weil er links gefahren war. Er bestand aber darauf, dass seine Unschuld in der Hauptverhandlung festgestellt würde; ein Geständnis kam für ihn überhaupt nicht in Frage.

In der Sitzung lief alles wie erwartet: Jeder machte die Angaben, die schon aus der Strafakte ersichtlich waren. Der Richter ermahnte die Freundin des Autofahrers eindringlich, die Wahrheit zu sagen. Er wies daraufhin, dass er sie vereidigen werde und dass ein Meineid mit Freiheitsstrafe geahndet werde. Die Frau blieb aber bei ihrer Aussage und erklärte, sie wolle den Eid leisten. Überraschend setzte der Richter die Verhandlung aus und beraumte einen Augenscheinstermin mit den Zeugen am Tatort an. Er schien dem Autofahrer und seiner Freundin instinktiv zu glauben und suchte nur nach Indizien, um das auch belegen zu können. Am Unfallort ergab sich dann tatsächlich eine plötzliche Wendung: Als der Polizeibeamte mit der Situation konfrontiert wurde und seine Handskizze überprüfte, bemerkte er einen Messfehler: Er hatte in der Handskizze das Maß von einer Straßenlaterne zur Unfallspur eingetragen und bei der Fertigung des Unfallplans für den Akt stattdessen von einer Ampel aus gemessen, weil in dem auf dem Revier aufliegenden Straßenplan nur diese Ampel, nicht aber die Laterne eingezeichnet war.

Diese beiden Beispiele zeigen deutlich, dass ein Richter nicht nur Interesse an der Aufklärung der Wahrheit haben, sondern auch Intuition und psychologisches Einfühlungsvermögen besitzen muss, um herauszufinden, was sich wirklich abgespielt hat. So könnte er sich auch nach und nach eine so gute Menschenkenntnis aneignen, dass er dann keinen Lügendetektor mehr benötigt. Leider aber nehmen sich viele Richter nicht mehr die Zeit, die nun einmal unbedingt notwendig ist, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. In der Regel werden sie sogar sehr sauer, wenn ein Verteidiger weitere Beweisanträge stellt, und lassen sich das dann auch noch anmerken.

 

Normalerweise gilt als Beweisregel, dass einem Zeugen geglaubt wird. Grotesk ist dies bei Verkehrsunfällen, wo die Erfahrung lehrt, dass die Beifahrer haargenau die jeweilige Version des Fahrers bestätigen. Dies sollte eigentlich dazu führen, dass ein Fahrer auch dann nicht unbedingt Recht bekommt, wenn sein Beifahrer für ihn aussagt und der Gegner keinen Zeugen im Auto hatte. Nur wenige Gerichte können sich aber zu dieser Konsequenz durchringen. So sind gerade die Verkehrsunfälle ein Musterbeispiel für die Leichtgläubigkeit der Gerichte.

Ganz unkritisch akzeptieren die Gerichte in der Regel die Aussagen von Polizeibeamten, denn sonst gibt es Ärger. Glaubt ein Richter beispielsweise einem Polizisten nicht, wird dieser das sofort seinem Dienststellenleiter melden und dieser wiederum wird den Landgerichtspräsidenten über dieses „unerhörte Vorkommnis“ informieren, als ob der Rechtsstaat kurz vor dem Zusammenbruch stehe: „....denn wo kommen wir hin, wenn einem Polizeibeamten nicht mehr geglaubt wird?“

 

Eigentlich sollte aber ein Polizeibeamter ein Zeuge sein wie jeder andere auch. Falschaussagen sind auch bei ihnen in Betracht zu ziehen und gar nicht so selten, wie manche glauben. Es kommt immer wieder vor, dass Bürger von Beamten geprügelt werden; und dann passiert es auch, dass die Beamten als Zeugen nicht nur alles abstreiten, sondern sogar ihre Opfer wegen falscher Verdächtigung anzeigen. Hier hat der Bürger normalerweise keine Chance. Nur wenn die Polizei einmal zu sehr übertreibt, kommt es zu einer Verurteilung ihrer Beamten, wie beim sogenannten Wiesenskandal in München. Da rührt sich dann doch bei den Richtern das Gewissen. So äußerte die Vorsitzende dieses Prozesses laut Presseberichten: „Die falsch verstandene Kameraderie ist mir in diesem Prozess besonders aufgestoßen und hat zeitweise mein richterliches Selbstverständnis in Frage gestellt.“ Die Richterin erklärte weiter in Anspielung auf Strafverfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte: sie und ihre Kollegen hätten allein auf Grund der Angaben von solchen Beamten schon Bürger verurteilt. Man kann hierzu nur sagen: Frau Richterin, man muss sich natürlich auch die Menschen ein wenig genauer anschauen, die hinter ihren Aussagen stehen. Man darf sich halt nicht allein darauf versteifen, dass der eine Zeuge und der andere Angeklagter ist.

 

Deshalb zu diesem Thema hier noch ein instruktiver Fall, der auf einer Tagung als typisches Lehrbeispiel vorgetragen wurde:

Zwei polnische Lehrer sitzen auf der Anklagebank. Sie sollen wahrheitswidrig gegen zwei deutsche Zollbeamte Anzeige erstattet haben mit der angeblich falschen Behauptung, sie seien von den Beamten geschlagen worden, als diese ihr Auto durchsuchten. Der Amtsrichter vernimmt die beiden Angeklagten zur Person und zur Sache. Die Angeklagten bestreiten die Tat. Anschließend hört der Richter fünf Zollbeamte als Zeugen: Alle fünf geben übereinstimmend an, die Angeklagten seien nicht geschlagen worden; das könnten sie genau sagen, weil sie ständig beieinander gewesen seien. Anschließend plädieren Staatsanwalt und Verteidiger. Kaum ist seit Beginn der Verhandlung eine Stunde vergangen, da hat der Richter die beiden Angeklagten verurteilt und seine Entscheidung auch schon begründet nach dem Motto: „Deutsche Beamte prügeln nicht! An ihrer Wahrheitsliebe besteht kein Zweifel.“ À propos Zweifel: Eigentlich hätte sich der Richter schon die Frage stellen müssen, weshalb sich gleich 5 Beamte mit der Durchsuchung eines Pkw befasst haben sollen. Und hätte der Amtsrichter sich die Menschen, mit denen er in dem Verfahren zu tun hatte, ein bisschen näher angesehen, hätte er gewusst, wie es wirklich gewesen ist. Aber da darf man sich natürlich nicht von einer Polizeiuniform blenden lassen.

Die beiden Angeklagten legen gegen den Rat ihres Verteidigers Berufung ein, denn ihr Vertrauen in die deutsche Justiz ist unerschütterlich. In der zweiten Instanz geraten sie an einen Richter, der sich für die Verhandlung immerhin einen ganzen Vormittag Zeit nimmt. Er fragt die Angeklagten nicht nur nach ihren Personalien, sondern versucht, sich ein Bild von ihrer Persönlichkeit zu machen, um sich die Frage zu stellen, ob ihnen die Tat zuzutrauen ist oder nicht. Irgendetwas muss damals passiert sein, so denkt er: entweder sind die Zollbeamten „ausgerastet“ und haben zugeschlagen oder die Angeklagten wollen sich aus irgendeinem Grund durch eine falsche Anzeige an den Beamten rächen – die Wahrheit muss doch irgendwie herauszubringen sein. Bei der Vernehmung zur Sache wird auf die Hintergründe der Tat eingegangen. Es ergibt sich, dass sich die beiden Angeklagten in Deutschland ihr Traumauto gekauft hatten und dass sie bei ihrer Ausreise einer genauen Kontrolle unterzogen wurden, die Stunden dauerte. Sie wollten den Sinn dieses Unternehmens nicht einsehen und äußerten sich auch entsprechend. Dies hatte zur Folge, dass die Kontrolle verschärft wurde. Es wurde nicht nur das Auto durchsucht, es wurden auch die Räder abmontiert. Als sich dann die Beamten anschickten, das Auto sogar ganz auseinander zu nehmen, fielen die beiden Angeklagten den Zollbeamten in den Arm, um dem Ganzen ein Ende zu machen. Bei dieser Gelegenheit wurden die Angeklagten nach ihren Angaben dann geschlagen. Die beiden betroffenen Beamten geben an, sie hätten die Angeklagten weggeschubst, um ihre Amtshandlung fortführen zu können; aber sie räumen auf intensiven Vorhalt des Richters schließlich doch ein, dass die Angeklagten diesen unwirsch ausgeführten Schubs als Schlag empfunden haben könnten.

Den Vorsitzenden interessierte nun aber die ganze Wahrheit. Auf seine neuerlichen Fragen, welche Aufgabe sie nach dem Dienstplan eigentlich hatten, müssen die drei anderen Zollbeamten einräumen, dass sie Dienst auf der Straße tun mussten.

„Und da wollen Sie uns weismachen, sie seien stattdessen stundenlang in der Abfertigungshalle gewesen?“ hält der Richter ihnen vor. Sie antworten ausweichend, sie seien zwar auf der Straße gewesen, hätten aber immer wieder in der Abfertigungshalle nach dem Rechten gesehen und könnten daher genau sagen, was dort passiert sei. So versuchten sie zu vertuschen, dass sie eigentlich von dem Streit viel zu wenig mitbekommen hatten, um die Behauptungen aufstellen zu können, welche die Grundlage der erstinstanziellen Verurteilung waren.

 

Nun wird mancher interessierte Leser finden, der Amtsrichter habe sich in erster Instanz durch die schnelle Verurteilung seine Aufgabe viel zu leicht gemacht. Man muss sich aber einmal in seine Lage versetzen: Tag für Tag hat er mit Leuten zu tun, die alles unternehmen, um sich ihrer meist wohl verdienten Bestrafung zu entziehen. Ausländer beschreiten oft nur aus einem sehr einleuchtenden Grund den Instanzenweg: Sie rechnen in vielen Fällen gar nicht mit einem Freispruch, sondern wollen nur die Rechtskraft ihrer Verurteilung durch Einlegung von Rechtsbehelfen hinauszögern, um einer eventuellen Ausweisung vorzubeugen. All dies frustriert natürlich den Richter. Immer öfter hat er in eindeutigen Angelegenheiten zu entscheiden, dass sie tatsächlich eindeutig sind. Dies stumpft ab und hat leider oft zur Folge, dass dem Richter die Zweifel, die er eigentlich manchmal doch haben müsste, überhaupt nicht in den Sinn kommen.

Ein weiteres kommt hinzu:

Während früher vor Gericht sachlich gestritten wurde, wird heutzutage immer mehr zu seltsamsten Taktiken oder gar Mätzchen gegriffen, um einen Angeklagten frei zu bekommen. So beginnt eine Verhandlung oft damit, dass ein Verteidiger ein vielseitiges Schriftstück auf den Tisch legt, in welchem er ein Gericht ablehnt, das weder er noch sein Mandant überhaupt kennen. Nun gibt es zwar ein Standesrecht der Anwälte, das auch dazu beitragen soll, die Berufsehre der Anwaltschaft aufrecht zu erhalten. Leider findet sich darin aber keine Regel, die verlangt, dass solch ein unsachlicher Unsinn zu unterlassen ist. Betrachtet man die Rechtsentwicklung der letzten Jahrzehnte, so kann man sagen, dass sich früher Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidiger gemeinsam auf die Suche nach der Wahrheit machten. Heute interessiert den Verteidiger weniger die Wahrheit als die Frage, wie er seinen Mandanten frei bekommt. Je mehr Schwierigkeiten der Anwalt macht, umso mehr gewinnt er an Ansehen bei seinen Mandanten. Er fühlt sich oft verpflichtet, die unsinnigsten Beweisanträge zu stellen, die nur eine Art von „Stolperdrähten“ sein sollen, um die Aussichten einer anschließenden Revisionseinlegung zu verbessern.

Durch all diese täglichen Erfahrungen sieht sich der Richter immer mehr in die Lage gedrängt, den Tatverdacht, der sich aus den Akten ergibt, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verfestigen.

Der Richter verliert dadurch leicht seine Fähigkeit, offen zu bleiben gegenüber der Möglichkeit, dass alles auch anders gewesen sein könnte. Er ist frustriert und spult seine Prozesse nach einem längst erstarrten Routinemuster ab. Eigentlich sollte er längst anderswo eingesetzt werden. Aber das geht nicht, weil er unabsetzbar und unversetzbar ist. Er kann oft gegen seinen Willen nicht einmal in ein anderes Referat versetzt werden, denn meistens will er wie seine Kollegen weiter dort arbeiten, wo er sich gut auskennt und wo er daher weniger Arbeitszeit benötigt. Deshalb trauen sich die Präsidien der Gerichte, die für die Geschäftsverteilung zuständig sind, häufig nicht, einem Kollegen ein Referat wegzunehmen, das dieser behalten will, denn es könnte ja sein, dass dieser sich durch eine plötzliche Erkrankung dafür „rächt“. Dann haben unter Umständen alle anderen mehr zu tun, also auch die Präsidiumsmitglieder.

 

So wird es weiter Fälle wie den folgenden geben:

Ein Schulbusfahrer steht vor Gericht. Es handelt sich um einen harmlos wirkenden jungen Mann, der mit den Schulkindern gerne kleine Späße macht. Er hat das Pech, gut auszusehen, so dass die Mädchen von ihm schwärmen. Und so kommt es, wie es kommen muss: Erst schwindelt ein Mädchen den anderen aus reiner Angabe vor, der Busfahrer habe sich für sie interessiert. Da können die anderen natürlich nicht zurückstehen und mehrere wollen etwas Ähnliches oder gar noch Schöneres erlebt haben. Eine behauptet schließlich sogar, der Mann habe sie unter ihrem Rock am Oberschenkel gestreichelt. Im Nu finden sich noch andere Mitschülerinnen, deren Oberschenkel natürlich auch die Aufmerksamkeit des Busfahrers erweckt haben soll. Irgendwann kommt das Gerede der Mädchen an die Öffentlichkeit und der arme Mann wird das Opfer der blühenden Phantasie der Teenager. Er wird angezeigt.

Die Mutter einer Betroffenen berichtet von der Verhandlung: „Erst habe ich geglaubt, der Richter wird schon so gescheit sein, dass er nicht jeden Unsinn glaubt. Dann sind mir doch Bedenken gekommen, und ich habe mir gedacht, dass ich ihn unbedingt sprechen muss. Das war aber nicht möglich. Es beruhigte mich, dass der Richter unter einem Kreuz saß, und ich betete: „Lieber Gott, mach, dass er diesen pubertierenden Gänsen nichts glaubt.“ Es hat nichts genützt. Der Busfahrer wurde verurteilt. Wahrscheinlich hat der Richter keine Kinder, weil er so einfach alles glaubt, was die sagen. Komisch, dass er meiner Tochter mehr glaubt als ich. Ich will nicht sagen, dass meine Tochter lügt. Die glaubt schon selber, was sie sagt. Aber die spinnt zur Zeit so, dass sie selbst nicht mehr weiß, was wirklich gewesen ist. Ich muss da jetzt irgendetwas unternehmen und mich an die nächste Instanz wenden, um dem armen Kerl zu helfen.“

Die Frau musste leider bald erfahren, dass sie von sich aus die Entscheidung des Gerichts nicht korrigieren lassen kann.

 

Beruhigend aber nicht unbedingt realitätsbezogen sind Krimiserien wie beispielsweise „Matlock“, in denen am Schluss immer die Wahrheit ans Licht kommt, wenn auch letztlich nur mit Hilfe eines versierten Anwalts und dessen tüchtigen Mitarbeitern. Die Wirklichkeit ist freilich anders. Die Wahrheit bleibt oft im Dunkeln, weil die Richter meistens, ohne es zu merken, nach Strich und Faden belogen werden oder den Sachverhalt nicht richtig erfassen. Daher kann man immer wieder mit Erstaunen beobachten, dass gerade Richter ihren nächsten Kollegen nicht viel zutrauen:

 

Ein Richter wird in einem Scheidungsverfahren von seiner Ehefrau erpresst: Sie verlangt von ihm, dass er ihr ein ererbtes Haus überschreibe, sonst würde sie ihn anzeigen und ihm vorwerfen, er habe sich über seine eigenen Töchter hergemacht. Als sein Anwalt vorschlägt, er solle der Erpressung nicht nachgeben, meint der Richter, er sehe das anders. Seine Frau sei intelligent und habe gesagt, sie werde im Prozess so perverse Details berichten, dass die Kollegen alles schon allein aus diesem Grund glauben würden und unwillkürlich denken, so etwas kann sich eine anständige Frau nicht ausgedacht haben: „Nein, auf so etwas kann ich mich nicht einlassen; ich kenne meine Kollegen. Ich verzichte gern auf mein Haus, wenn ich mir den ganzen Ärger ersparen kann.“ Eigentlich sollte der Richter doch zu seiner Frau sagen können: „Ich kann ganz ruhig mein Schicksal in die Hände der Justiz legen. Da sitzen erfahrene, versierte Leute, die schon herausbringen werden, was die Wahrheit ist. Deine Lügen und Gemeinheiten werden dir nichts nützen. Du wirst sehen, was heraus kommt, wenn man dich und die Kinder so richtig in die „Mangel“ nimmt.“

Wenn der Mann aber lieber die Justiz aus dem Spiel lässt, so hat er damit völlig recht. Wie würde wohl das von der Ehefrau angedrohte Strafverfahren ablaufen? Ungefähr so: Eine Polizeibeamtin, die eigens für Kindsmissbrauchsfälle angestellt wurde, wird in einem solchen Fall ihre Daseinsberechtigung unter Beweis stellen wollen. Sie zieht eine ebenfalls extra angestellte Psychologin hinzu, die den Kindern Puppen mit übergroßen Geschlechtsteilen zum Spielen gibt. Es ist klar, dass die Kinder beim Spielen natürlich zuerst an diese Geschlechtsteile greifen. Nach einer Viertelstunde steht für die Psychologin fest: da war etwas Sexuelles, was die Kinder zu verdrängen suchen. Die meisten Richter werden es sich dann sehr einfach machen und der Sachverständigen folgen - wie immer. Man sollte einmal einen eigenen Preis für das Gericht aussetzen, das zu einem anderen Ergebnis als der Sachverständige kommt. Nur in ganz seltenen Fällen regt sich doch einmal das, was ein weiser Mann einmal den „heiligen Zweifel“ genannt hat.

Der Richter hatte übrigens noch einen zweiten guten Grund, der Erpressung durch seine Ehefrau nachzugeben. Bei der Justiz sollte eigentlich die Verpflichtung zur dienstlichen Verschwiegenheit eingehalten werden. Diese Pflicht wird aber in der Praxis in spektakulären Fällen meist nicht erfüllt. Wenn also beispielsweise ein Richter im Scheidungsverfahren sexueller Perversitäten bezichtigt wird, ist dies sofort Gesprächsstoff in der Behörde. Es ist ganz gleich, was dann letztendlich im Scheidungsverfahren festgestellt wird. Entweder heißt es: „Der Richter hat seine Frau........“ oder man sagt: „Man hat es dem Richter nicht nachweisen können, dass er...“. In beiden Fällen ist man jedenfalls im Amt davon überzeugt, dass der Richter ein „Schwein“ ist. Der Mann ist also „unten durch“ und kann sich in seiner Behörde nicht mehr sehen lassen.

 

Um noch kurz bei der Schweigepflicht zu verweilen: Wir können immer wieder feststellen, dass die Presse in brisanten Fällen alles herausbringt, was eigentlich geheim bleiben müsste. Manches steht eher im „Spiegel“, als es beispielsweise auf dem Dienstweg nach „oben“ gelangt. Innerdienstliche Geheimnisse sind heute käuflich, aber meistens braucht die Presse deshalb nichts zu bezahlen, weil immer irgendwo in einer Behörde jemand sitzt, der an einer Veröffentlichung eines Vorgangs interessiert ist, beispielsweise aus parteipolitischen Gründen.

 

Wie wenig Vertrauen die Richterkollegen zueinander haben, sei mit einer weiteren kleinen Episode belegt: Ein Richter sperrt jeden Abend alle Gerätschaften, mit denen er in seinem Garten gearbeitet hat, mit besonderer Sorgfalt in die Garage. Er erklärt dies damit, dass er Streit mit seinem Nachbarn habe, der ein richtiger Choleriker sei; deshalb fürchte er, dass dieser Mann womöglich eines Tages seine eigene Frau umbringen könnte, um dann ihm (dem Richter) den Totschlag „in die Schuhe zu schieben“; dies ginge dann ganz einfach, wenn der Nachbar ihm nur heimlich eine Axt entwendet und sie als Indizienbeweis für die Mordkommission am Tatort hinterlegt. „Damit bin ich schon verurteilt! Wenn ich nun sagen würde, dass mein Nachbar meinen Spaten entwendet haben muss, um mich zu belasten, würde man das nur mit einem mitleidigen Lächeln quittieren. Und wenn ich sagen würde, ich sei doch nicht so blöd, das Tatwerkzeug am Tatort liegen zu lassen, würde man mich belehren, dass alle Täter Fehler machen. Dass jemand eine falsche Spur legt, geht über das Begriffsvermögen des normalen Richters hinaus. So etwas wird bedauerlicherweise meist nur in guten Krimis aufgeklärt.“

 

Vielleicht ist es bei der Justiz so ähnlich, wie es ein alter Lehrer einmal für den Lateinunterricht ausgedrückt hat: „Früher haben wir die Grammatik-Regeln mit allen Ausnahmen und alle Ausnahmen von den Ausnahmen gelernt. Heute lernen die Schüler nur noch die Regeln und vielleicht die eine oder andere Ausnahme.“ Auch bei der Justiz hat man vielfach den Eindruck, dass in unserer schnelllebigen Zeit viel zu leicht der Regelfall angenommen wird und dass die Erörterung von denkbaren Besonderheiten oder Abweichungen als zeitaufwendige nutzlose Fleißaufgabe angesehen wird.

 

Es gibt übrigens bei der Justiz auch schon junge Beamte, bei denen man den Eindruck hat, sie hätten Scheuklappen vor den Augen. Wie schlimm dies sein kann und welche verheerenden Folgen daraus entstehen können, sei mit folgendem Beispiel demonstriert:

 

Ein Mann meldet seine Frau als vermisst. Der Verdacht der Polizei richtet sich natürlich auch gleich gegen ihn, und so werden entsprechende Ermittlungen eingeleitet. Es ergibt sich dabei, dass der Kamin des Verdächtigen dicke Rauchwolken ausgestoßen hatte, die einen Nachbarn zu der bissigen Bemerkung veranlasst hatten, es rieche ja fast so, als würde gerade die vermisste Ehefrau verbrannt. Wie es oft bei solchen makabren „Scherzen“ ist: Sie werden plötzlich für bare Münze genommen; einer erzählt es dem anderen und schließlich finden alle, „es riecht nach Menschenfleisch“. Die Polizei erfährt bald von der Sache. Da weitere Indizien nicht vorhanden sind, schaltet sie einen Gutachter ein. Dieser kommt nach eingehenden Analysen zu dem Ergebnis, es könne nicht festgestellt werden, ob in dem offenen Kamin des Beschuldigten ein Mensch verbrannt worden sei. Die Polizei legt das Ergebnis der Ermittlungen dem Staatsanwalt vor mit der resignierenden Bemerkung, der Beschuldigte könne trotz des von vielen Zeugen wahrgenommenen typischen „Krematoriumsgeruchs“ nicht überführt werden, weil der Gutachter zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen sei. (Dass Krematorien meistens sogar mitten in der Stadt stehen und keinen Geruch verbreiten und dass demnach auch niemand den typischen Krematoriumsgeruch kennen kann, kommt den Beamten gar nicht in den Sinn.) Da erwacht der „Jagdinstinkt“ des Staatsanwalts: Er beauftragt einen neuen Gutachter, ein gründlicheres Gutachten zu erstatten mit dem Hinweis, der Krematoriumsgeruch müsse doch im Kamin einen chemischen Niederschlag gefunden haben. Tatsächlich kommt der zweite Gutachter nun zu dem Ergebnis, der Beschuldigte habe seine Frau verbrannt, denn im Kamin befänden sich dieselben chemischen Substanzen wie im menschlichen Körper. Der Staatsanwalt ist vollauf zufrieden: Er entfernt das erste Gutachten aus dem Akt, weil es wissenschaftlich nicht haltbar sei und nimmt es zu seinen Handakten. Dann erhebt er Anklage und hat damit Erfolg. Kaum war der Beschuldigte rechtskräftig verurteilt, tauchte seine Frau gesund und munter wieder zu Hause auf.

Auch dies ist ein typischer Fall von Besserwisserei: Der Staatsanwalt hält sich für gescheiter als das Gericht und behält deshalb Beweismittel bei sich zurück, um das Gericht nicht zu „verwirren“; es könnte ja sonst sein, denkt er, dass ein Mörder zu Unrecht freigesprochen werde. Seine Pflicht wäre es natürlich gewesen, beide Gutachten vorzulegen und in der Anklageschrift genau zu erklären, weshalb er das eine Gutachten für verfehlt hält. Verteidiger sollten deshalb immer misstrauisch sein, wenn die Seiten eines Akts umnummeriert wurden. Sie sollten sich fragen, aus welchem Grund die Seitenzahlen verändert worden sein könnten. Manchmal ist die Ursache offensichtlich ganz banal: Beispielsweise instruiert die Polizei in spektakulären Fällen die Staatsanwaltschaft oft schon vorweg und legt das, was sie bereits eingereicht hat, später noch einmal mit der kompletten Anzeige vor. Auf jeden Fall sollten die Verteidiger dann, wenn der Verdacht besteht, dass Aktenblätter fehlen, die Verwertung der staatsanwaltschaftlichen Handakten durch das Gericht verlangen.

 

Ludwig Thoma schrieb einmal recht böse über seine Kollegen: „Er war Jurist und auch sonst von mäßigem Verstand.“ Diese Bemerkung war auf einen „Brucheinser“ gemünzt, also einen Mann der ein Spitzenexamen gemacht hatte. Solche Leute sind oft so sehr von sich überzeugt, dass sie die Ansichten anderer, und seien sie auch noch so begründet, für reinen Blödsinn halten. Sie kommen also schon vom ersten Tag an mit Scheuklappen zur Justiz, obwohl sie gerade erst noch die Examensbank gedrückt haben.

So hatte sich ein junger Staatsanwalt gleich nach seinem Dienstantritt mit folgendem Fall zu befassen:

Ein Mann verlor ein Auge, weil er beim Vorbeiradeln an einer Baustelle ein genau in Augenhöhe weit herausragendes Brett übersah. Er machte geltend, er habe das Brett übersehen müssen, weil das menschliche Auge bekanntlich einen blinden Fleck habe. Der junge Staatsanwalt hatte von diesem Phänomen noch nie etwas gehört. Er stellte das Verfahren ein mit der Begründung, dass der Verletzte an dem Unfall selbst schuld sei. Beim Mittagessen in der Kantine berichtete dieser Staatsanwalt dann von allerlei Unsinn, der ihm in seinem Büro unterbreitet werde, und erwähnte auch diesen letzten Fall. Ein älterer Richter gab ihm dazu den guten Rat: „Wenn Sie lange bei der Justiz gearbeitet haben, werden Sie feststellen, dass manches, was einem als völlig blödsinnig erscheint, durchaus Hand und Fuß haben kann. Vielleicht reden Sie einmal mit dem Landgerichtsarzt über das Phänomen des blinden Flecks im Auge.“

Am nächsten Tag traf der Staatsanwalt den Richter wieder und sagte zu ihm: „Sie haben es gewusst, dass es den blinden Fleck gibt. Ich hatte davon noch nie etwas gehört oder gelesen.“

„Ja, aber gerade deshalb wäre es dringend nötig gewesen, dass Sie der Sache nachgegangen wären, bevor sie das Verfahren einstellen.“

 

Viele Richter stumpfen im alltäglichen Dienst so ab, dass sie fast nicht mehr in der Lage sind, das Gewicht einer Straftat richtig zu erfassen. Schlägt beispielsweise ein Raufbold einem harmlosen älteren Bürger grundlos in der U-Bahn die Nase ein, so ist dieser brutale Eingriff in die körperliche Integrität für manchen Richter nur ein Alltagsdelikt, das entsprechend milde geahndet wird. Körperverletzungen sind nun einmal ein großer Teil dessen, was ein Strafrichter zu bearbeiten hat, also sozusagen fast der „Normalfall“, außer der Richter wird selbst einmal zum Opfer einer solchen brutalen Schlägerei: Dann besteht die Chance, dass er in Zukunft bei solchen Delikten weniger milde Urteile fällt.

Vielen Richtern erscheint auch ein Einbruch irgendwie als eine Art von Glücksfall für das Opfer, weil dieses sich dann auf Kosten seiner Hausratsversicherung lauter neue Sachen anschaffen kann, wobei hinsichtlich der tatsächlichen Schadenshöhe häufig großzügig manipuliert wird. Auch in diesem Fall können oder wollen sich die Richter kaum noch in die Rolle der Geschädigten hineinversetzen. Wenn zum Beispiel einer berichtet, er habe nach dem Einbruch so sehr unter der Zerstörung seiner Intimsphäre gelitten, dass er sein Haus habe verkaufen müssen, so ist er in den Augen mancher Juristen höchstens ein Hysteriker.

Auch für Vergewaltigungen bringen viele Juristen kein rechtes Verständnis auf: „Das ist doch nichts anderes, als dass die Frau einmal etwas unfreiwillig gemacht hat, was sie sonst umsonst tut.“ Sogar der heilige Augustinus wird in diesem Zusammenhang zitiert, der ja geschrieben hat, manche Frauen würden die Nase so hoch tragen, dass sie es sich selbst zuzuschreiben hätten, wenn sie vergewaltigt würden. Andere sind der Meinung, viele Frauen würden sich so schamlos kleiden und benehmen, dass sie sich nicht wundern müssten, wenn sie vergewaltigt würden.

 

Wer zu lange (im wahrsten Sinne des Wortes:) oben sitzt, befindet sich in der ständigen Gefahr, hochmütig zu werden. So gibt es Richter, die meinen, ihnen komme quasi ein diplomatischer Status zu und gewisse Gebote und Verbote würden für sie nicht gelten.

Als beispielsweise einmal die Frau eines Richters wegen Falschparkens gebührenpflichtig verwarnt wurde, erkundigte sich deren Ehemann, welcher Polizeibeamte sich diese Dreistigkeit erlaubt hatte. Dann rief er wütend: „Natürlich der..... Der gehört auch zu denen, die zu dumm sind, sich die amtlichen Kennzeichen der Richterautos zu merken. Na, der soll mal als Zeuge zu mir in die Sitzung kommen!“

Nicht selten bevorzugt die Polizei die Justizangehörigen auch, dass manche von ihnen wirklich glauben, sie hätten nun schon kraft ihres Amtes Anspruch auf eine solche Sonderbehandlung:

Ein Staatsanwalt wird bei einer erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung von der Polizei erwischt. „Steig mal aus, Bürschchen!“ ruft der diensttuende Polizeibeamte: „Her mit dem Führerschein!“

Der Staatsanwalt kommt dieser Aufforderung nach und händigt dem Beamten ein Etui aus, in dem sich sein Führerschein und auch sein Dienstausweis befinden. Als der Polizeibeamte nun merkt, wen er vor sich hat, salutiert er schneidig und sagt: „Entschuldigung, Herr Staatsanwalt, ich habe nichts gesehen!“

 

Und was passiert, wenn ein Richter betrunken fährt? Bei der Polizei geht ein Anruf ein: Ein Pkw mit bestimmtem Kennzeichen fährt in Schlangenlinie. Der zuständige Beamte weiß auf Grund des Kennzeichens und der Fahrtstrecke, dass es sich um einen bestimmten Richter handelt, der in sein Büro fährt. Er ruft bei Gericht an und fragt, ob er den Richter sprechen könne. Man sagte ihm, er sei in der Sitzung. Daraufhin schreibt der Polizeibeamte in den Akt: „Blutprobe nicht veranlasst, da der Beschuldigte gerade seine Sitzung abhielt, also nicht unter Alkoholeinfluss stehen konnte“.

Ein anderer Richter lebt mit seinem Nachbarn in Streit. Dieser hat bemerkt, dass der Richter dem Alkohol sehr zugetan ist und auch manchmal betrunken mit dem Pkw fährt. Er zeigt ihn daher öfter bei der Polizei an. Doch jedes Mal bleibt die Polizei untätig, weil angeblich alle Streifenwagen im Einsatz sind. Als der Mann wieder einmal anruft, wird er von der Polizei so belehrt: Falls sich bei einer Blutprobe herausstellen sollte, dass der Richter unter der gesetzlichen Promillegrenze liege, werde der Schuss nach hinten losgehen: Dann werde ein Verfahren wegen falscher Anschuldigung gegen den Anzeigeerstatter eingeleitet. Daraufhin zog der Mann seine Anzeige zurück, was eigentlich rechtlich in einem solchen Fall gar nicht möglich ist.

Tatsächlich ist Alkoholeinfluss bei Richtern gar nicht so selten: Manche tragen schwer an der Verantwortung und müssen sich damit beruhigen und entspannen. Vielen aber setzt der Stress des ständigen Streitens so zu, dass nur noch Alkohol ihnen helfen kann, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. Schließlich haben auch einige nicht zu Unrecht schreckliche Angst vor Gewaltanschlägen und versuchen, diese Panik mit Alkohol zu überwinden.

 

 

5.

 

An sich könnte ein Außenstehender leicht zu der Überzeugung kommen, dass die Justiz nur Traumjobs zu vergeben hat. Dies gilt aber nur für den Juristen, der mit einem akzeptablen, aber nicht übermäßigen Gehalt zufrieden ist und keinen großen Ehrgeiz besitzt. Schwieriger wird es aber für jeden, der beruflich vorankommen möchte und nicht in der Eingangsstufe seiner Gehaltsscala hängen bleiben will. Jede Beförderung setzt eine entsprechende dienstliche Beurteilung voraus. Um die zu bekommen, muss man lernen, sich unterordnen zu können.

Es würde sich beispielsweise nicht gut in einer Beurteilung ausnehmen, wenn dort stünde:

„Ein sehr auf seine richterliche Unabhängigkeit bedachter Mann.“ Auch ist die für einen Richter unerlässliche Feststellung, er habe „gelegentlich Zusammenstöße mit dem Staatsanwalt“, kein geeignetes Renommee für ein berufliches Fortkommen.

 

An sich wäre es verhältnismäßig einfach, Richter einigermaßen zuverlässig zu beurteilen: Man bräuchte nur die Anwälte zu befragen. Doch damit gäbe man die Möglichkeit der politischen Einflussnahme aus der Hand. Also unterlässt man dies mit der Begründung, die Anwälte könnten ja die ihnen genehmen Richter bevorzugen. Das ist aber genauso absurd, wie wenn man den Richtern nachsagen würde, sie würden die Anwälte gewinnen lassen, die ihnen sympathisch sind.

Weil praktisch der Dienstvorgesetzte über die Beförderung entscheidet, muss jeder Richter oder Staatsanwalt so arbeiten, wie es „oben“ gut ankommt, sonst bleibt er „sitzen“.

Er muss also, wenn sich die Medien für eines seiner Verfahren interessieren, zunächst einmal das tun, was ihm eine gute Presse einbringt. Während er mit seinen Kollegen den Prozess gegen einen schlichten geständigen Mörder an einem Nachmittag „erledigen“ könnte, muss ein spektakulärer Mord eine längere Verhandlung nach sich ziehen, sonst findet die Presse, man sei zu oberflächlich vorgegangen. Schließlich hofft die Presse ja auf pikante Details aus dem Leben des Täters, die sie meist aus den Gutachten der Sachverständigen erfährt. Marianne Bachmeier, die den Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal erschossen hatte, wurde, obwohl die Tat klar bewiesen war, erst nach monatelangem Prozess verurteilt - wobei hier offen bleiben soll, ob die Dauer des Verfahrens womöglich auf Anträge der Verteidigung zurückzuführen ist. Das Beispiel Bachmeier wurde nur erwähnt, um zu zeigen, dass ein Mordfall mit einem geständigen Täter sowohl an einem Nachmittag wie auch erst in einem Vierteljahr erledigt werden kann. Ein katholischer Richter äußerte sich einmal über seine Möglichkeiten sehr treffend: „Man kann das als stille Messe aufziehen oder als Hochamt.“

Wenn man als objektiver Beobachter die unterschiedlichen Verfahrensweisen in diesen Fällen mitverfolgt, stellt man sich schon die Frage: Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Je länger ein Verfahren dauert und je mehr Gutachter über die Wesensart des Angeklagten und seine Möglichkeiten, die Tat zu vermeiden, gehört werden, desto mehr Zweifel kommen auf und um so teurer wird es. Diese Zweifel verbessern nur die Lage eines solchen Täters, der den Gutachtern bereitwillig Auskunft gibt. Dagegen bleibt die Lage für einen Angeklagten natürlich schlechter, wenn über seine psychische Situation nur der Landgerichtsarzt befragt wird.

 

Jeder Richter hat das Pech, dass er ständig im Blickfeld irgendwelcher Personen steht, die ihm nicht immer wohl gesonnen sind. Die Wände seines Büros „haben Ohren“, was jemand einmal treffend so umschrieb: „Was einer heute in seinem Zimmer treibt, weiß morgen der Präsident.“ Dieser ist für die dienstlichen Beurteilungen zuständig und hört sich deshalb überall um. Wie merkwürdig es dabei zugeht, sei am besten mit Beispielen belegt:

Ein anerkannt guter Richter wurde bis zu seiner Pensionierung niemals befördert. Warum dies so war, verstand keiner, der nicht mit den Gepflogenheiten der Justiz vertraut ist. Eines Tages kam durch Zufall, genauer gesagt durch eine Indiskretion des zuständigen Gerichtspräsidenten, auf, warum dieser Richter „sitzen geblieben“ ist: Dieser Richter habe in einer Sitzungspause falsch herum auf der Toilette gesessen und dabei Worte vor sich hin gemurmelt, so sei ihm berichtet worden. Auf die Frage, woher man denn wisse, wie der Richter im stillen Örtchen gesessen sei, antwortete der Präsident, ein Informant habe die nassen Fußabdrücke auf dem Boden gesehen und das Murmeln nebenan gehört. Auf den Einwand, sein Informant müsse doch von sehr zweifelhafter Glaubwürdigkeit sein, wenn er nachträglich kontrolliere, wie der Richter gesessen sei, erwiderte der Präsident: „Wissen Sie, es kommt gar nicht darauf an, ob das Gerücht wahr ist oder nicht. Wichtig ist allein, dass so etwas gerade über diesen Mann gesagt wird. Schließlich wird man solche Sachen kaum über Sie oder mich berichten!“

 

Wenn Sie meinen, es handele sich bei der geschilderten Geschichte um einen Einzelfall, täuschen Sie sich sehr. Was bei der Justiz alles möglich ist, soll mit einer noch viel drastischeren Begebenheit belegt werden, die in Justizkreisen erzählt wird und die deshalb wohl glaubhaft sein dürfte, wenn sie auch noch so unwahrscheinlich klingt:

Ein junger, gewissenhaft arbeitender Staatsanwalt hat Probleme mit seinem Gruppenleiter. Zwischen den beiden „stimmt die Chemie nicht“. Ständig kommt es zu Auseinandersetzungen wegen irgendwelcher Nichtigkeiten. So hat der Staatsanwalt in einer Anklageschrift geschrieben, der Angeklagte habe innerhalb der „überschaubaren Strecke“ nicht anhalten können. Sein Gruppenleiter wirft ihm vor, nicht richtig deutsch zu können. Richtig müsse es heißen: „übersehbare Strecke“. Der Staatsanwalt widerspricht, stützt sich auf den Gesetzestext, der ihm recht gibt, und erklärt, die Anklageschrift sei fertig und unterschrieben, er wolle der Schreibkraft die zusätzliche Arbeit der Änderung nicht zumuten; in Zukunft werde er aber die gewünschte Diktion verwenden. Der Gruppenleiter beharrt auf seinem Verlangen der Berichtigung. Aber der junge Staatsanwalt ist auch stur: wenn der Gruppenleiter eine Änderung wünsche, solle er eine schriftliche Weisung geben oder selbst die Anklage ausbessern und unterschreiben. Der Gruppenleiter meldet diesen eklatanten Fall von Aufsässigkeit dem Behördenleiter. Dieser ist empört und wartet nur auf eine Gelegenheit, den jungen Mann loszuwerden. Diese Gelegenheit kommt schneller als gedacht:

Der junge Staatsanwalt unterhält sich mit den Sekretärinnen der Kanzlei über die optimale Arbeitszeit. Man ist sich einig, dass man im Sommer lieber etwas früher mit der Arbeit beginnen möchte, um nachmittags noch zum Baden gehen zu können. Der Staatsanwalt erwähnt diesen Wunsch beiläufig gegenüber seinem Behördenleiter. Dieser ist erbost. Zornig geht er in die Kanzlei und stellt die Sekretärinnen zur Rede: Was ihnen denn einfalle, so etwas mit einem schlichten Staatsanwalt zu besprechen anstatt mit ihm als zuständigem Behördenleiter. Die Sekretärinnen sind völlig verdattert. In ihrem Schrecken bestreiten sie, über eine andere Dienstzeit gesprochen zu haben. Der Behördenleiter glaubt ihnen nur zu gerne und kommt zu dem Schluss, der junge Staatsanwalt müsse also an einer beginnenden, näher aufzuklärenden geistigen Erkrankung leiden; er beschließt, ein Dienstenthebungsverfahren einzuleiten. Und so wendet er sich schriftlich an alle Richter mit der Frage, ob ihnen etwas Seltsames an dem Staatsanwalt aufgefallen sei. Das Ergebnis dieser Umfrage ist zwar objektiv gesehen ein Flop, aber für denjenigen, der sich auf eine Idee versteift hat, durchaus befriedigend: Ein Richter meldet, er habe sich gewundert, dass der Staatsanwalt in einer Sitzung einmal seine Schuhe ausgezogen habe, was hinter dem Pult nur für ihn sichtbar gewesen sei; ein anderer notiert, der Staatsanwalt habe während einer Verhandlung in seinen Akt Männchen gemalt. Der Oberstaatsanwalt meldet diese „schwerwiegenden“ Vorfälle dem Chef des Gesundheitsamts und bittet ihn, den Staatsanwalt auf seinen Geisteszustand zu untersuchen. Am nächsten Tag findet der junge Mann, der völlig ahnungslos ist, eine Vorladung für den folgenden Tag vor: Er habe sich zwecks Untersuchung auf seinen Geisteszustand um 8.00 Uhr im Gesundheitsamt einzufinden, andernfalls werde er polizeilich vorgeführt.

Der Staatsanwalt prüft, ob für dieses Vorgehen eine Rechtsgrundlage besteht und kommt zu dem Schluss, dass es sich hierbei um reine Willkür handelt. Er äußert, dass er Anzeige wegen Freiheitsberaubung erstatten werde, wenn man ihn zur Untersuchung abhole. Der Behördenleiter bekommt Angst vor seiner eigenen Courage: Die Aktion wird abgeblasen. Der Staatsanwalt, der bisher sein Leben lang gesund war, hatte sich aber darüber so aufgeregt, dass er Herzbeschwerden bekam und zum Arzt gehen musste. Der schreibt ihn sofort krank. Dies wiederholt sich nun des öfteren, da die Auseinandersetzungen in diesem Stil weitergehen. Schließlich muss der noch verhältnismäßig junge Mann aus gesundheitlichen Gründen pensioniert werden. Seitdem ist er „Frührentner“ und kerngesund.

Ein in mehrfacher Hinsicht typischer Fall: Wenn man diejenigen befragt, die vorzeitig in den Ruhestand treten, wird man feststellen, dass sehr oft Probleme mit dem Behördenleiter der Grund für das vorzeitige Ausscheiden waren. Die Leute, die zu Amtschefs ernannt werden, sind auch meistens auf diese Aufgabe nicht genügend vorbereitet worden. Wer als tüchtiger Jurist gilt und sich anpassen kann, erreicht irgendwann einmal einen leitenden Posten. Aber sind diese Voraussetzungen auch ausreichend für diese Aufgabe?

 

Ein älterer Richter hat einmal berichtet: Als er Dienstanfänger war, hing noch neben dem inneren Portal des Justizgebäudes ein Hitlerbild. Morgens, wenn Beschäftigte und Publikum ins Haus strömten, verharrte ein bestimmter Oberstaatsanwalt immer still – die Hand zum deutschen Gruß erhoben – vor dem Portrait seines Führers. Natürlich wurde er vielfach darauf angesprochen, weshalb er dies tue. Er antwortete, er benötige die Kraft, die von dem Bild ausgehe, für seine Arbeit. Selbstverständlich hat sich für den Mann die besondere Linientreue gelohnt: Er erreichte eine Spitzenposition, in welcher er natürlich auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs weiter arbeiten konnte. Der Fall ist, obwohl er schon so lange zurück liegt, deshalb erwähnenswert, weil er zeigt, mit welch spektakulären Nichtigkeiten man unter Umständen eine Beförderung erreichen kann.

Eine der Merkwürdigkeiten unserer neueren Geschichte ist es, dass man als hochrangiger Nazi durchaus im neu gegründeten Rechtsstaat in hohen Beamten- und Richterpositionen verwertbar war, während die Kommunisten nach der Wiedervereinigung ungleich schlechtere Karten hatten. Als unsere Bundesrepublik gegründet wurde, war nicht nur der Kommentator der Judengesetze Globke als Staatssekretär Adenauers beschäftigt, es blieben auch Richter tätig, die zwielichtige Todesurteile zu verantworten hatten.

Als Reminiszenz an diese Zeit ein instruktiver Fall: Ein Deutscher „arischen Geblüts“ war im Dritten Reich heimlich zu seiner jüdischen Frau geschlichen und hatte bei ihr geschlafen. Linientreue Bürger waren aber wachsam gewesen und hatten Anzeige erstattet. Der Mann bekam 5 Jahre für seine Tat. Der Richter führte in seinem Urteil aus, es sei eigenartig, dass orientalisches Geschmeiß einen unwiderstehlichen Reiz auf den arischen Mann ausübe; solange dies im Rahmen der Prostitution geschehe, könne man Nachsicht walten lassen; weil es hier aber um die Ehe und die Reinhaltung des arischen Blutes gehe, sei die ganze Härte des Gesetzes angebracht. Nur mit Kopfschütteln konnte man dieses Urteil lesen, in dem man kein bisschen Verständnis dafür hatte, dass der Mann seine Frau liebte, mit der er schon so viele Jahre verheiratet war. – Vor demselben Gericht verlangte der Mann später, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, eine Entschädigung für die Haft. Ein Reporter fragte den zuständigen Präsidenten des Gerichts, ob Richter, die solche Urteile gefällt hätten, in unserem heutigen Staat noch tragbar seien. Der Präsident fiel ihm empört ins Wort und erwiderte: „Hätte der Kollege vielleicht den Märtyrer spielen und die Judengesetze nicht anwenden sollen, zu denen das Volk „Hurra“ geschrieen hat?“ Der Reporter erwiderte, er sei zu jung um zu wissen, ob das Volk wirklich „Hurra“ geschrieen habe; er mache ja auch dem Richter keinen Vorwurf daraus, dass dieser gültige Gesetze angewandt habe; verwerflich fände er nur die perfide Art der Urteilsbegründung. Der Präsident hatte für diese Sichtweise kein Verständnis: „Gute Staatsdiener zeichnen sich nun einmal dadurch aus, dass sie dreihundertprozentig hinter einer Sache stehen. Übrigens: was will der Mann eigentlich: Er saß gemütlich im Gefängnis, während ich an der Front mein Leben riskierte. Und jetzt will er noch Entschädigung dafür. Ich weiß nicht recht, ob er nicht damit neue Ressentiments weckt.“ Der Fall lehrt, dass ein „guter“ Staatsdiener in jedem System in gleicher Weise gut verwendbar ist - Hauptsache: er ist anpassungsfähig. Das heißt zunächst einmal, es ist am besten, wenn er politisch nach rechts tendiert. Linken traut man eigenartigerweise oft nicht so ganz zu, dass sie für Recht und Gesetz eintreten. So wird beispielsweise der Innenminister Schily immer noch von CSU-Mitgliedern als Terroristenanwalt beschimpft, obwohl er vor Jahrzehnten nichts anderes getan hat, als seinen Beruf auszuüben: Er hat ein RAF-Mitglied verteidigt, das einen Rechtsanspruch auf anwaltschaftlichen Beistand hatte.

 

Weil Anpassungsfähigkeit ein Schlüssel für eine berufliche Karriere sein kann, hat dies zur Folge, dass immer „stromlinienförmigere“ Juristen erzeugt werden. Jemand fragte einmal in einer politisch brisanten Angelegenheit, ob da nicht der Justizminister durch eine Weisung Einfluss auf das Strafverfahren genommen habe. Diese Frage kann nur als naiv bezeichnet werden. Es gibt so etwas wie einen vorauseilenden Gehorsam, der jede Weisung überflüssig macht. Wer da nicht spurt, wird nicht oder erst sehr spät befördert. Rein rechnerisch gesehen wird eine Unbotmäßigkeit also strenger bestraft als die Vergehen, die vom Gericht mit Geldstrafen geahndet werden.

 

Kein Richter lässt sich gerne auf diese Weise bestrafen. Also schaut er, dass er in kein Fettnäpfchen tritt. Ein Präsident äußerte einmal in einer Ansprache, er erwarte von seinen Richtern, dass sie nach dem Motto arbeiten: Nur nicht auffallen. Er ergänzte allerdings, gute Arbeit werde als selbstverständlich vorausgesetzt, so dass man eigentlich nur negativ auffallen kann. Das will natürlich keiner, schon um keine finanziellen Einbußen zu erleiden und seiner Karriere nicht zu schaden.

 

Wie sieht nun das angepasste Arbeiten aus?

 

Beginnen wir bei der Staatsanwaltschaft: Der Sachbearbeiter steht unter dem Druck der Statistik. Je mehr er erledigt und umso schneller es geschieht, desto tüchtiger gilt er. Manche Staatsanwälte neigen deshalb sehr schnell dazu, ein Verfahren einzustellen, denn dann ist es ganz einfach zu Ende gegangen, ohne dass ein weiterer Arbeitsaufwand nötig war. Gerade in komplizierten Betrugsverfahren, beispielsweise bei Investmentbetrügereien nach dem Schneeballsystem steht ein Staatsanwalt vor der Gewissensfrage: entweder einen Grund suchen, der eine Einstellung rechtfertigt oder Indizien ermitteln, die eine Überführung des Täters ermöglichen? Bejaht der Staatsanwalt die erste Frage, hat er vielleicht eine Stunde oder einen halben Tag zu tun, sonst aber kann er sich unter Umständen eine Mehrarbeit von einem Monat oder mehr aufhalsen.

Weil der Verfolgungseifer der Staatsanwaltschaft seine Grenze häufig dort findet, wo er mit einem höheren Arbeitsaufwand verbunden ist, kann man auch oft folgendes beobachten: Ein besonders dreister Täter, der sein Revier auf die Bezirke mehrerer Staatsanwaltschaften erstreckt, löst im Normalfall einen Streit der Sachbearbeiter drüber aus, wer für die Tatserie zuständig ist. Der erste Staatsanwalt findet, dass im Zuständigkeitsbereich des Nächsten mehr Taten begangen wurden, so dass dort einzuschreiten sei, während dieser findet, der Schaden, den der Täter angerichtet habe, sei aber im Bereich des ersten Staatsanwalts viel größer gewesen. Und so geht es weiter, während der Täter ungebremst und unver-drossen seine Verbrechensserie fortsetzt. Eigentlich müsste der Täter ja schon längst verhaftet werden, aber der Staatsanwalt, der dies veranlasst, kann ein solches Verfahren nicht mehr abgeben. Also wird der Täter nicht verhaftet, sondern es wird weiter über die Zuständigkeit gestritten.

Meistens bleiben diese oft haarsträubenden Streitereien über die Zuständigkeit der Öffentlichkeit verborgen. Aber manchmal kommen sie auch ans Tageslicht wie beispielsweise bei der Leuna-Bestechungsaffäre:

Seit Jahren bestand der Verdacht, dass beim Verkauf dieses Unternehmens Millionensummen als Schmiergelder geflossen sind. Obwohl es sich um die wohl größte Korruptionsaffäre der Bundesrepublik handelte, die in den Medien ständig am Kochen gehalten wurde, saßen die Staatsanwälte in ihren Büros und schienen zu denken und zu hoffen: Hoffentlich erstattet niemand in dieser Sache eine Anzeige bei mir! Denn erst dann müssen die Staatsanwälte tätig werden. Wenn sie dagegen etwas derartiges in der Zeitung lesen, dürfen sie es ja übersehen, denn bei der morgendlichen Zeitungslektüre fühlen sie sich noch nicht im Dienst. Eigentlich sollte aber der Grundsatz gelten: Ein Staatsanwalt ist immer im Dienst!

Irgendwann einmal konnte aber auch der unwilligste Staatsanwalt in der Leuna-Affäre nicht mehr wegschauen: Sie wurde auf irgendeine Weise „amtlich“. Nun begann ein Zirkus, der jedem dienstbeflissenen Staatsanwalt die Schamröte ins Gesicht treiben müsste: Monatelang wurden die Akten in der Bundesrepublik herumgeschickt. Irgendwie schien jeder Staatsanwalt zu denken, dass er besser die Finger von dieser Sache lässt. Das Ausland hat uns vorgemacht, wie die Justiz arbeiten sollte: Obwohl man dort kein so großes Interesse an der Aufklärung hat und das Gewicht der dort begangenen Taten nicht so groß ist, ist man dort schon Jahre früher eingeschritten und hat Haftbefehle gegen die beteiligten Deutschen ausgestellt. Die Beamten der ausländischen Ermittlungsbehörden in Frankreich und in der Schweiz haben für ihre deutschen Kollegen nur Hohn und Spott übrig. Vielleicht lassen die deutschen Staatsanwälte überhaupt die ganze Sache im Ausland aufarbeiten, wie es ja auch ähnlich in der Industrie üblich ist, dass man eben jenseits der Grenzen produziert.

Ist es nicht erschreckend, wenn der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags die Staatsanwaltschaften rügen musste, indem er ihr Verhalten als unverständlich kritisierte? Wie ein Bettler zog er durch die Lande, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen: Er wandte sich an „seinen letzten Rettungsanker“, nämlich die Staatsanwaltschaft Saarbrücken, und forderte diese nachdrücklich auf, sie möge sich doch endlich einmal der Bestechung im Fall Leuna annehmen.

Ist es nicht auch unsagbar traurig, dass sich unter den vielen Staatsanwälten in Deutschland kein einziger gefunden hat, der sich freiwillig dieses Falles angenommen hätte? Was aber wäre wohl passiert, wenn ein junger mutiger Staatsanwalt von sich aus auf Grund eines Zeitungsberichts ein Verfahren eingeleitet hätte, womöglich sogar gegen unseren früheren Bundeskanzler? Er wäre wohl wegen seines Diensteifers von seinen Kollegen als „Verrückter“ beschimpft worden, und sein Behördenleiter hätte ihm eine Rüge erteilt, weil er sich freiwillig eine Arbeit aufgeladen hätte, welche einen erheblichen Teil der Arbeitskraft der Dienststelle für einen längeren Zeitraum gebunden hätte. Ein solches Mammutverfahren zählt in der so bedeutsamen Erledigungsstatistik leider auch nur genauso viel wie jenes, über das sich die Fernsehsendung „Frontal“ vom 29.8.00 aufgeregt hatte: Eine Frau hatte 10 Walnüsse gesammelt, die unter einem Nussbaum am Straßenrand lagen; sie wurde von der Staatsanwaltschaft Freiburg im Breisgau wegen Diebstahls verfolgt, obwohl die Eigentümerin des Nussbaums überhaupt keinen Wert auf die Nüsse legte. So etwas lässt sich natürlich ruck-zuck in fünf Minuten erledigen.

Wenn die deutschen Staatsanwälte sich nicht recht an die Leuna-Affäre heranwagen wollten, obwohl sich offensichtlich ihre ausländischen Kollegen ein Vergnügen daraus machten, sie mit Aktenmaterial zu versorgen, so hatte dies vielleicht seinen Grund auch darin, dass in Deutschland das Interesse an der Aufklärung von Skandalen nicht sehr groß ist. Verfolgt man die Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, so gewinnt man manchmal fast den Eindruck, als ob man sich hinter den Kulissen darauf geeinigt hat, ein bisschen aufzudecken und dann ein „Bauernopfer“ zu bringen – nach dem Motto: Tut ihr uns in diesem Ausschuss nicht besonders weh, revanchieren wir uns in einem anderen. Das geringe Aufklärungsinteresse unserer Parlamentarier lässt sich am besten durch die Vorgänge um die Stasi-Akten der Amerikaner beleuchten: Erst wurde uns weis gemacht, die Amerikaner würden ihre Akten nicht herausgeben. Als uns aber die Amerikaner dann dauernd diese Akten anboten, winkten unsere Behörden zunächst ab. Jede Partei fürchtete offensichtlich die Aufdeckung von Spionen in ihren eigenen Reihen. Also wollte man lieber den Mantel des Vergessens über diese Straftaten decken. Mit Gerechtigkeit hat das aber nichts mehr zu tun, besonders dann nicht, wenn wir im Vergleich dazu daran zurück denken, dass eine schlichte Sekretärin, die ihrem geliebten Stasi-Offizier ein paar Geheimnisse zugeflüstert hatte, die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekam, indem sie zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Man sieht also, ein guter Staatsanwalt braucht ein gutes Gespür dafür, wo er forsch einschreiten darf und wo er sich zurückzuhalten hat. Sonst gilt er als Elefant im Porzellanladen der Justiz und ist für höhere Ämter nicht geeignet.

In den bisherigen Ausführungen hat sich ja schon deutlich gezeigt, dass es wichtige Regeln für die staatsanwaltschaftliche Arbeit gibt:

Regel 1: In erster Linie die Statistik im Auge behalten.

Regel 2: Auf keinen Fall auffallen oder gar anecken:

Eine Anzeige mit folgendem Sachverhalt ist zu bearbeiten: Ein Bürger hat endlich eine Grundschuld in Höhe von 150.000 DM abbezahlt und will sie im Grundbuch löschen lassen. Da stellt er zu seinem Entsetzen fest, dass der Grundschuldbrief verloren gegangen ist. Er beantragt daher, den Brief für kraftlos erklären zu lassen. In dem hierauf eingeleiteten amtsgerichtlichen Zivilverfahren wird sein Antrag im Bundesanzeiger veröffentlicht mit dem Bemerken, dass jeder, der Rechte an dieser Grundschuld geltend machen will, dies innerhalb einer gewissen Frist tun möge. Ein bekannter Politiker, der offenbar zu wenig zu tun hatte, liest gerade diese Anzeige. Zufällig ist ihm die Grundschuld einmal vor vielen Jahren zugestanden; sie ist dann aber später in die Hände verschiedener anderer Gläubiger übergegangen. Der Politiker legt nun nur die Urkunden vor, die ihn als Gläubiger ausweisen, und verlangt, dass das Gericht zu seinen Gunsten entscheidet. Glücklicherweise findet der Bürger nun doch seine Unterlagen wieder und erstattet gegen den Politiker Anzeige wegen Betrugs. Der Politiker verteidigt sich damit, er habe viel um die Ohren und deshalb offenbar ein schlechtes Gedächtnis; er habe geglaubt, die 150.000 DM stünden ihm zu; schließlich ginge es um keinen so hohen Betrag(!), so dass ein Irrtum nach dieser langen Zeit durchaus möglich sei, zumal seine Unterlagen infolge eines Versehens unvollständig seien und ihn als richtigen Gläubiger ausweisen würden. Was macht ein Staatsanwalt, wenn er mit einer solchen Anzeige konfrontiert wird? In unserem Fall hat er das Verfahren eingestellt mit einer Bemerkung, die als Kotau gegenüber den Politikern erscheint: Wer weiß, wie viel unsere Politiker zu tun haben, muss zu der Überzeugung kommen, dass bei einer derartigen beruflichen Belastung ein solcher Irrtum durchaus einmal unterlaufen kann. – Der Staatsanwalt hat sich damit sicherlich für höhere Aufgaben qualifiziert.

 

Wenn sich aber ein Staatsanwalt in solchen Fällen stur stellt, bringt dies überhaupt nichts. Der Mann gilt fortan als Querkopf und wird irgendwie ausgeschaltet. Auch ohne seine Mitarbeit geschieht das, was geschehen soll gleichgültig, ob der zuständige Sachbearbeiter mitmacht oder nicht. Ein junger Staatsanwalt, der sich aus Gewissensgründen in die Nesseln gesetzt hatte und dann sah, dass alles, was er verhindern wollte, an ihm vorbeilief, sagte: „Früher habe ich immer gedacht, wie kann ein Mensch nur so weit kommen, dass er bei Judenvergasungen mitmacht. Heute weiß ich es: Wenn er sich weigert, hat er die schlimmen Folgen der Befehlsverweigerung zu tragen, aber was ändert sich dadurch? Nichts! Warum soll er also dann nicht gleich mitmachen?“

Noch zwei Beispiele zum Thema Staatsanwaltschaft und Politik:

Ein Abgeordneter hat auf schneeglatter Landstraße zwei Frauen überfahren, die am Straßenrand auf den Bus warteten. Im Polizeibericht steht, dass zur Unfallzeit leichtes Schneetreiben herrschte. Der Staatsanwalt findet, dass der Abgeordnete genauso bestraft werden soll wie jeder andere Autofahrer auch. Der zuständige Gruppenleiter ist ein erfahrener alter Hase. Er belehrt den Staatsanwalt: „Das können Sie ruhig versuchen. Das bringen Sie nie durch! Das ist vergebliche Liebesmüh´.“ Der Staatsanwalt gibt nicht auf. Er informiert, wie vorgeschrieben, das Ministerium über die vorliegende Anzeige und darüber, was er zu tun gedenkt. Nach längerer Zeit kommt die Antwort vom Ministerium: Man findet dort, der Polizeibericht sei zu unvollständig bezüglich der Sichtverhältnisse; es möge nachermittelt werden, ob nicht auch Nebel geherrscht habe, wenn ja, möge man prüfen, ob das Verfahren nicht eingestellt werden könnte. Der Staatsanwalt ist außer sich vor Wut und schimpft: „Dann können wir für die Wintermonate ja gleich die Verkehrsjustiz aufgeben.“ Aber er gibt nicht auf mit der Folge, dass ihm bald darauf ein anderes Referat übertragen wird.

 

Nun könnte vielleicht jemand einwenden, die Zeiten hätten sich inzwischen gebessert, wie die anhängigen Verfahren gegen hohe CDU-Politiker belegen würden. Das Merkwürdige, ja Erschütternde an diesen Verfahren ist aber doch gerade, dass sie erst nach dem Verlust der Macht eingeleitet wurden. Zuvor, als der Spiegel schon über Schmiergelder und Schwarzgeldkonten berichtet hatte, hat sich kein Mensch darum gekümmert, nicht einmal dann, als die Süddeutsche Zeitung einen Artikel über Schmiergeldzahlungen in der Panzeraffäre geschrieben hatte.

Wenn damals ein Untersuchungsausschuss des Bundestages klären sollte, inwieweit in der bayerischen Justiz von oben her Einfluss auf diese politischen Verfahren genommen wurde, so muss man sich vor Augen halten, wie die Einflussnahme in solchen Fällen ausgeübt zu werden pflegt: In der Regel kommt von oben nie etwas Klares, schon gar nicht schriftlich. Man gibt nur gesprächsweise zu bedenken, und wenn der Untergebene nicht entsprechend denkt, tut ihm vielleicht ein Referatswechsel oder die Versetzung in ein Richteramt gut. Oft muss man aber gar nicht so weit gehen, denn ältere Kollegen oder Gruppenleiter kommen mit weisen Ratschlägen: „Der Ober sticht den Unter. Wenn die da oben etwas so haben wollen, sollen die doch auch die Verantwortung dafür übernehmen. Warum soll ein schlichter Staatsanwalt querschießen auf die Gefahr hin, dass er bis an sein Lebensende nicht befördert wird?“

Im Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags, der sich ebenfalls mit der Spendenaffäre befasste, erklärte der zuständige Staatsanwalt Maier, ab November 1999 seien konsequente und zeitnahe Ermittlungen nicht mehr möglich gewesen, weil man alle geplanten Schritte vorab in München habe melden müssen, was selbst für „Pipifax“ gegolten habe. Wir sehen also, wie gut es aus Sicht der Politiker ist, wenn die Fäden staatsanwaltschaftlichen Handelns in den Händen der Regierung liegen: So konnte man die Durchsuchung der CDU-Parteizentrale, die Einschaltung der Steuerfahndung und die Vernehmung des Bundeskanzlers Kohl abblocken. Und noch etwas Interessantes erfuhren wir von Staatsanwalt Maier: Er beklagte, dass er bestellte Berichte habe schreiben müssen; das sei das reinste Schwarze-Peter-Spiel gewesen, in dem er habe schreiben müssen, was die anderen gewollt hätten; er habe sich nicht weiter zum Alibi-Staatsanwalt machen lassen wollen und sei dann Richter geworden. Hier sehen wir das Entwürdigende an der staatsanwaltschaftlichen Praxis: Die Arbeit wird vom schlichten Staatsanwalt geleistet, dem schon in seiner Dienststelle Gruppen- und Behördenleiter hineinreden. Und dann mischen sich auch noch Generalstaatsanwalt und Ministerium ein. Der Staatsanwalt hat alles das zu tun, was von ihm verlangt wird und muss das Ganze dann noch als sein geistiges Produkt unterschreiben. Das ist besonders in den Fällen unerträglich, in denen ein Staatsanwalt gegen seine innere Überzeugung handeln muss.

Die Politiker brauchen Juristen, die ihnen nicht weh tun. Deshalb wird von politischer Seite immer mehr Einfluss auf die Besetzung hoher Ämter in der Justiz ausgeübt. Man findet dies durchaus normal, denn beim Bundesverfassungsgericht ist die Richterwahl in einer Art und Weise gesetzlich vorgeschrieben, die zwangsläufig nur Juristen mit einer gewissen politischen Ausrichtung in dieses Amt kommen lässt. Wenn dies also für das höchste deutsche Gericht sozusagen vorgeschrieben ist, finden Politiker nichts dabei, es bei der sonstigen Justiz und anderen Behörden genauso zu machen. Wie beispielsweise bei der Besetzung des Bundesgerichtshofs verfahren wird, erfuhren die Fernsehzuschauer in der Sendung „Panorama“ vom 28.3.2002 aus dem Munde des Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes Geert Mackenroth: „Es geht nach dem Motto: Zwei rechts, zwei links, einen fallen lassen.“ Damit wollte er ausdrücken, dass die Richter nach ihrer politischen Ausrichtung ausgesucht werden. Er fuhr fort: „Es wird geschachert und getrickst wie auf einem asiatischen Viehmarkt.“ Obwohl bereits gerichtlich festgestellt wurde, dass dieses Auswahlverfahren „mit dem verfassungsrechtlichen Ziel, eine demokratische Legitimation der Bundesrichter zu erreichen, nicht vereinbar ist“, wird einfach so weiter gemacht wie bisher.

In die Regierungspartei einzutreten, ist das Beste, was Juristen für ihre Karriere tun können, wird mancher jetzt vielleicht vermuten. Diese Vermutung trifft zwar, wie wir gesehen haben, durchaus für die höchsten Gerichte zu. Für diejenigen aber, die sich dort keine Chancen ausrechnen können oder an einem solchen Posten nicht interessiert sind, ist es oft besser, parteilos zu bleiben, jedoch Kontakt zu den parteinahen Zirkeln zu halten. So gibt es wohl in allen Hauptstädten Lokale und Cafés, wo sich die Justizangehörigen der verschiedenen Parteien treffen. Bei solchen Treffen muss man dabei sein, wenn man voran kommen will. Dort kann man den kompetenten Leuten der Regierungspartei begegnen und diesen gegenüber äußern, dass man liebend gerne in ihre Partei eintreten würde, wenn man nicht der Auffassung wäre, dass Richter neutral bleiben sollten. Dann ist man prädestiniert für höhere Ämter, denn man ist offensichtlich absolut linientreu mit einem unbezahlbaren Vorteil: Man gehört nicht einer bestimmten Partei an. Wenn also das große Zählen angeht, wie viele Spitzenpositionen von der Regierungspartei vereinnahmt wurden, zählt man nicht mit.

Eigentlich dürfte es ja wohl bei der Justiz nur wenige Beförderungsstellen geben, wenn das Bundesverfassungsgericht bei den Richtern die gleichen Maßstäbe anlegen würde wie bei den Abgeordneten. Für letztere entschied es, dass im wesentlichen alle gleich hoch besoldet werden müssten, da sonst ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt wäre. Warum soll das nicht auch für Richter gelten? Ein Amtrichter, der in einer Vielzahl von Fällen tagein tagaus ständig mit Bürgern zu tun hat, kann durchaus – in positivem wie in negativem Sinn – mehr für das Ansehen der Justiz tun als ein Richter am Revisionsgericht, der sich in der Regel mit abstrakten Rechtsfragen befasst. Die Tätigkeit dieser beiden Richter ist völlig verschiedenartig – man kann aber nicht sagen, dass eine von beiden höherwertig sei und deshalb besser besoldet werden müsse. Für das Funktionieren der Justiz ist es mit am wichtigsten, dass die Amtsgerichte ihre Pflicht tun und die Masse der Verfahren in angemessener Frist erledigt wird.

 

 

Wie Richter arbeiten, wenn sie nicht auffallen wollen, kann man Tag für Tag den Zeitungen entnehmen: lasche Strafen, unverständliche Verfahrenseinstellungen oder Freisprüche. Dieser Missstand hängt im wesentlichen mit den dienstlichen Beurteilungen zusammen. Je öfter die Urteile eines Richters aufgehoben werden, um so schlechter ist seine Chance auf Beförderung. Also neigen viele Richter dazu, dem Angeklagten entgegen zu kommen. Er ist ja derjenige, von dem in erster Linie Rechtsmittel zu erwarten sind. Der Staatsanwalt ist Beamter, der sich nicht unbedingt durch Einlegung eines Rechtsmittels zusätzliche Arbeit aufhalsen will. Also wird sich die Waage der Justitia meistens so einpendeln, dass der Angeklagte nach Möglichkeit kein Rechtsmittel einlegt. So haben wir eine Justiz, die eher zaghaft anpackt, als dass sie hart durchgreift.

 

Früher gab es einen Brauch, der dem entgegenwirkte. Auf den Geschäftstellen der Gerichte lagen unterschriebene Erklärungen der Staatsanwälte auf mit dem Satz: „Ich lege Rechtsmittel ein“. Jedes Mal, wenn ein Verteidiger ein Rechtsmittel einlegte, legte die Geschäftsstelle eine ebensolche Erklärung des Staatsanwalts in den Akt ein und vermerkte darauf das Aktenzeichen des Verfahrens. Der Fall blieb also auf diese Weise nach beiden Seiten hin offen, denn auf ein Rechtsmittel des Angeklagten kann ein Urteil nicht zu seinem Nachteil geändert werden („Verböserungsverbot“). Der geschilderte alte Brauch ist leider dem inzwischen verfeinerten Rechtsempfinden zum Opfer gefallen, doch sollte man bei der derzeitigen Aufweichung der Strafjustiz durchaus überlegen, ob das „Verböserungsverbot“ im Rechtsmittelrecht nicht doch wieder abgeschafft werden sollte.

Derzeit ist es ja so, dass ein Angeklagter geradezu Rechtsmittel einlegen muss. Ein Grund hierfür ist, dass es sich angenehmer in Untersuchungshaft sitzt, als in der strengeren Strafhaft. Der zweite Grund ist der, dass es ja nur besser werden kann. Ein Angeklagter beschrieb den herrschenden Zustand in einem Brief an seine Ehefrau so: „Liebe Rosi, rege Dich in der Verhandlung nicht auf. Der Staatsanwalt wird blutrünstige Anträge stellen, aber der Richter wird ihnen nicht folgen. Die erste Instanz ist auch völlig nebensächlich. In der zweiten ist dann alles nur noch halb so schlimm. Den richtigen Erfolg werden wir aber mit einem guten Verteidiger in der dritten Instanz erzielen.“ Genauso ist es. Das Gericht erster Instanz schaut schon, dass es so milde urteilt wie möglich und unterbietet den Staatsanwalt, um Verteidiger und Angeklagten zufrieden zu stellen. Dabei mag allerdings auch eine Rolle spielen, dass Staatsanwälte gerne beim Strafmaß etwas „vorgeben“, um dem Richter eine „Rabattmöglichkeit“ einzuräumen. Dies ist eigentlich unzulässig. Sicher ist jedenfalls, dass die zweite Instanz ebenfalls in sehr vielen Fällen ihre Daseinsberechtigung darin sieht, einen weiteren Nachlass zu gewähren nach dem Motto: Vielleicht ist dann endlich Ruhe. Wenn aber ein Angeklagter in der dritten Instanz einen Erfolg erzielt, ist dies für ihn ein gewaltiger Sieg. Wird nämlich der Fall wieder an die vorige Instanz zurückverwiesen, dann wird nicht selten nach der Devise geurteilt: Wenn die da oben nicht wollen, wollen wir auch nicht.

Der Fall des Sängers Konstantin Wecker ist geradezu typisch für die heutige Justiz. Erst wird ein knallhartes und angemessenes Urteil gefällt, dann wird der Rechtsmittelweg ausgeschöpft und schließlich ist soviel Zeit vergangen, dass alles nur noch als halb so schlimm erscheint und jeder findet: Man kann doch einen Menschen nicht mehr für das, was er vor so langer Zeit getan hat, ins Gefängnis schicken (Korrekterweise müsste man natürlich statt „Gefängnis“ das scheußliche Wort „Justizvollzugsanstalt“ verwenden). Der Fall „Wecker“ ist kein Einzelfall, sondern geradezu symptomatisch. Deshalb legen kluge Straftäter grundsätzlich Rechtsmittel ein. Wenn es dann noch dem Verteidiger gelingt, das Verfahren zu verzögern, ist der Erfolg so gut wie sicher, sofern nicht der Angeklagte wieder etwas Neues anstellt. Wenn es um eine Freiheitsstrafe geht, gilt also der Grundsatz: Nur Dumme nehmen ihre Verurteilung in erster Instanz widerspruchslos hin. Meistens sind die Straftäter ja auch mittellos oder ohne nachprüfbares Einkommen, so dass sie auch keinerlei Kostenrisiko eingehen, wenn sie den Instanzenweg beschreiten. Und für den Verteidiger ist es auch nicht schlecht, wenn er nicht nur in einer, sondern in drei Instanzen Gebühren verdienen kann.

So leben wir in einem Staat, der von manchen in „Rechtsmittelstaat“ umgetauft worden ist. Bei derartigen Verhältnissen kommt es so weit, dass sich die unteren Instanzen sagen: Wenn die obere Instanz meine Urteile dauernd abmildert, kann ich auch selbst sehr milde sein. Auf diese Weise entsteht ein Trend nach unten, was die Strafhöhe und auch die Bestrafung betrifft.

An sich hat jede Strafvorschrift einen Strafrahmen, der bezüglich der Strafhöhe für den Richter verbindlich ist. Strafschärfungs- und Strafmilderungsgründe sind ausschlaggebend dafür, wie schwerwiegend die Tat zu bewerten ist und wie hoch demnach die Strafhöhe ausfallen muss. Wenn man Strafurteile liest, hat man den Eindruck, dass bei jeder Straftat die Strafmilderungsgründe überwiegen. In den Urteilen nehmen sie meist einen breiteren Raum ein als die strafschärfenden Umstände. Hat beispielsweise eine Freiheitsstrafe einen Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren kann man sicher sein, dass die meisten tatsächlich verhängten Strafen im untersten Bereich liegen. Strafen, die drei Jahre überschreiten, kommen kaum je vor.

Und meistens gibt es natürlich Strafaussetzung zur Bewährung. Wie das, was im Namen des Volkes entschieden wird, beim Volk ankommt, kann man sich beispielsweise auf einer Bahnfahrt anhören: Da liest ein Mann einem anderen aus der Zeitung vor, dass der Portier eines Sylter Hotels die Gäste bestohlen hatte; obwohl der Portier einschlägig vorbestraft war, wurde ihm Strafaussetzung zur Bewährung bewilligt, „weil er sonst seinen Arbeitsplatz verloren hätte“ (So die Urteilsbegründung des Richters). Derjenige, der das Ganze aus der Zeitung vorgelesen hatte, rief empört: „Sind die bei der Justiz denn total verrückt. Da tun die alles, damit so ein Verbrecher seinen Arbeitsplatz behält. Und was ist mit uns? Müssen wir auch erst klauen, damit wir einen Bewährungshelfer bekommen, der uns dann wieder eine Stelle besorgt?“ Dies ist nicht nur die Stimme eines Mannes aus dem Volke, sondern das Volk scheint allgemein so zu denken, wie der enorme Erfolg der Partei des Amtsrichters Schill in Hamburg beweist. (Schill tritt ja für eine härtere Gangart des Rechtsstaats ein.) Das Volk ist offenbar schon lange nicht mehr so recht mit den Entscheidungen einverstanden, die in seinem Namen gesprochen werden. Über jedem Urteil stehen bekanntlich die Worte: „Im Namen des Volkes!“

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Ein Arzt fährt mit über 1,5 Promille Alkohol im Blut mit seinem Mercedes und kommt infolge seiner alkoholbedingten Fahruntauglichkeit auf die falsche Straßenseite; dort stößt er mit einem Kleinwagen zusammen, dessen Insassen sofort tot sind. An sich handelt es sich dabei um einen Fall, bei dem eine längere Freiheitsstrafe ohne Bewährung zu verhängen ist. Demgemäss lautet das Ersturteil des Amtsgerichts auf zwei Jahre und zwei Monate Freiheitsstrafe. Es ist klar, dass der Arzt ein solches Urteil nicht hinnehmen will: In der zweiten Instanz sieht dann alles ganz anders aus: Nach der mündlichen Urteilsbegründung des Landgerichts hat das Amtsgericht wichtige Milderungsgründe übersehen: Der Arzt sei nämlich „geständig“, nicht vorbestraft, sei sozial integriert und arbeite „in einem angesehenen Beruf“. Soweit ist es nun schon gekommen, oder soll man sagen: soweit ist die Justiz verkommen, dass all dies Milderungsgründe sein sollen: Was ist schon an einem Geständnis positiv zu bewerten, das durch Blutprobe und Unfallspuren erzwungen ist? Sind wir tatsächlich schon soweit, dass der Normalzustand, nämlich dass jemand nicht vorbestraft ist, die Strafe mildern soll? Sind nicht umgekehrt eher die Vorstrafen ein Strafschärfungsgrund? Und wie steht es mit der sozialen Integration? Soll der arme Penner wegen seiner Wohnsitzlosigkeit strenger angepackt werden? Am schlimmsten aber ist die strafmildernde Berücksichtigung des „angesehenen Berufs“. Da stellt sich zunächst einmal die Frage ob die Ärzte, von denen viele ihren Beruf nur wegen des hohen Einkommens wählen und die daher sehr viele „schwarze Schafe“ in ihren Reihen haben, tatsächlich so angesehen sind. Was kann aber beispielsweise ein Reporter dafür, dass sein Beruf nicht so angesehen ist? Soll er deshalb in den Knast, während dem Arzt eine solche Strafe erspart bleibt? Was hat das Ganze noch mit Gerechtigkeit zu tun?

Es gibt eine alte Juristenweisheit, die besagt, dass es drei Arten von Urteilsgründen gibt: Die mündlichen, die schriftlichen und die wirklichen. Wahrscheinlich wird das Landgericht einiges von dem, was in der mündlichen Begründung gesagt wurde, beim Absetzen des schriftlichen Urteils weggelassen haben. Aber die mündliche Urteilsbegründung ist doch gerade deshalb interessant, weil sie einen Hinweis auf die wirklichen Motive des Gerichts enthält. Sie steht also der Wahrheit näher, als eine schriftliche Begründung, die darauf angelegt ist, das Urteil revisionssicher zu machen. Wir erleben hier im Normalfall ein erstaunliches Nebeneinander von „Dichtung“ und Wahrheit.

Das Ganze sei noch einmal mit einem Beispiel verdeutlicht: Ein Angeklagter hat einer alten Frau vorgespiegelt, er komme im Auftrag ihres Enkels und bitte sie um 1000 Euro; der Enkel werde nämlich wegen eines völlig unbegründeten Vorwurfs an der Grenze festgehalten und benötige diesen Betrag als Kaution. In einem solchen Fall wird die mündliche Begründung des Urteils vielleicht so aussehen: Der charakterlose Angeklagte habe die Dreistigkeit besessen, die Arglosigkeit einer armen alten Frau auszunutzen, um ihr einen erheblichen Teil ihrer Ersparnisse abzunehmen. Die schriftliche Begründung liest sich dann aber ganz anders: Dem Angeklagten seien verschiedene Strafmilderungsgründe zugute zu halten; sein Opfer habe durch unglaubliche Leichtgläubigkeit und Naivität die Tat im wesentlichen selbst verschuldet, und schließlich sei der Schaden ja auch nicht so hoch gewesen.

Um nun noch auf die wirklichen Urteilsgründe zu kommen: Es gibt Richter, die eine bestimmte Art von Verbrechern nicht leiden können oder die auf gewisse Taten übertrieben reagieren und deshalb in solchen Fällen besonders hart urteilen. Zum Beispiel: Bei der Abtreibung finden manche Richter, eine solche Tat sei ein Mord im Leib der Mutter, während vielleicht eine Richterin nach dem Motto „Mein Bauch gehört mir!“ denkt: Eine Frau müsse selbst darüber entscheiden dürfen, was sie im Fall einer ungewollten Schwangerschaft tun will. Entsprechend der unterschiedlichen Denkweise der beiden Richter wird auch die Strafe in beiden Fällen ganz verschieden hoch ausfallen.

Kehren wir noch einmal zu den Ärzten zurück. Wer mit ihnen als Richter zu tun hat, hat Scherereien, denn sie haben Geld genug, um mit den besten Anwälten durch alle Instanzen zu gehen. Also weicht die Justiz in vielen Fällen lieber allen Schwierigkeiten aus: Instruktiv wurde dies am Fall des Laborarztes Bernd Schottdorf demonstriert. Dieser Mann soll die Kassenärztliche Vereinigung dadurch um 16,9 Millionen Mark betrogen haben, dass er vier Ärzte nur zum Schein anstellte - so lautete der Vorwurf der Anklage. Obwohl es sich um eine der größten Betrügereien im deutschen Gesundheitswesen handelte, beantragte der Staatsanwalt nur eine Bewährungsstrafe wegen „Opfermitverschuldens“, weil er der Meinung war, die Krankenkassen hätten die Ärzte besser kontrollieren müssen. Ja, muss man denn die Angehörigen eines, wie wir gehört haben: „angesehenen Berufsstands“ ständig überwachen, als wenn es sich um eine Räuberbande handeln würde? Auch hier haben wir wieder die Situation, dass nur mit Glacé-Handschuhen zugegriffen wird. Ab wie viel Millionen Mark Schaden soll denn endlich einmal das Gesetz normal angewandt werden?

Übrigens ist dann bei dem Verfahren gegen den Laborarzt nichts herausgekommen, d.h. ein Freispruch, „weil die Justiz offensichtlich bei der Aufarbeitung der Arztskandale innerhalb der KVB überfordert ist“, wie der Vorsitzende des Sozialausschusses im Landtag hinterher feststellte.

Früher gab es einmal so etwas wie ein Berufsethos: Wer Arzt wurde, hatte den ehrlichen Wunsch leidenden Menschen zu helfen. Heute treiben eher finanzielle Aspekte junge Menschen zum Arztberuf. Aber es genügt den Medizinern nicht, dank einer großzügigen GOÄ zu den Spitzenverdienern zu gehören: Nein, der Betrug greift in diesem Berufsstand immer mehr um sich, nicht nur in großem Umfang beispielsweise wie bei dem Skandal mit den Herzklappen, sondern auch in der täglichen Praxis wird, wie die Fernsehsendung WISO ermittelte, in den meisten Fällen mehr berechnet, als gemacht wurde. Kontrolle? Fehlanzeige! Und wenn einmal etwas aufkommt, gibt es bei unserer Justiz sowieso höchstens eine Bewährungsstrafe.

 

Laien werden es nicht für möglich halten: Es kommt gar nicht so selten vor, dass Angeklagte dreimal Strafaussetzung zur Bewährung erhalten: bei der ersten Strafe sowieso, bei der zweiten, „weil sie strafrechtlich auf einem völlig anderen Gebiet liegt“ (um aus einem Urteil zu zitieren) und bei der dritten, „weil der Angeklagte nun eine ernsthafte Bindung eingegangen ist und man von seiner Freundin, die ein Kind erwartet, einen günstigen Einfluss erwarten kann“.

Wenn jemand etwas gegen diese Verweichlichungstendenzen sagt, wird er verächtlich als „Law-and-order-Mann“ beschimpft. Das Traurige daran ist, dass Recht und Ordnung, die Grundwerte unseres Staates, nicht einmal innerhalb der Justiz unumstritten sind und konsequent verteidigt werden.

So wundert sich jemand, der mit den hiesigen Verhältnissen vertraut ist, eigentlich nicht, dass der größte terroristische Anschlag vom September 2001 Spuren aufweist, die nach Deutschland führen. Es scheint sich nämlich auch schon überall in der Welt herum gesprochen zu haben, wie wenig Biss unser Rechtsstaat hat. Symptomatisch scheint der Brief eines anatolischen Bauern zu sein, den ein hier aufgegriffener Kurde bei sich führte: „Mein Sohn, gehe am besten nach Deutschland, denn dort sind – wie jedermann weiß – die Gesetze am günstigsten und die Richter am mildesten, und vor Folterungen brauchst Du keine Angst zu haben: Die sind in deutschen Gefängnissen äußerst selten.“ Als ein Richter diesen Satz anlässlich der ihm obliegenden Briefzensur las, verbreitete er ihn als Kuriosum, denn er hatte offenbar auch keine Ahnung davon, dass Amnesty International schon wiederholt der Bundesrepublik vorgeworfen hat, hier würden inhaftierte Personen misshandelt.

Wir leben in einer Zeit der Umkehrung aller Werte. Diese Zeitströmung macht auch vor der Justiz nicht halt. So gilt nicht mehr der Grundsatz: „Ein Verbrechen lohnt sich nicht!“ Im Gegenteil: es rentiert sich, gegen das Gesetz zu verstoßen. Um diese These zu belegen, sei hier zunächst ein spektakulärer Mordfall erwähnt, der durch die Presse ging:

Ein junger Maler bemüht sich vergeblich, seine selbst gemalten Werke an der Haustür zu verkaufen. So erschlägt er, um zu Geld zu kommen, eine alte Rentnerin, die ihm die Tür öffnet und ihn herein lässt. Seine Beute beträgt zwar nur 8,32 DM: Trotzdem bringt ihm sein Verbrechen einen enormen Gewinn ein: Bei der Tat wird seine Bildermappe mit Blut besudelt. Daraufhin erzielen seine blutigen Bilder Höchstpreise. Vom Gefängnis aus (für Juristen: „Von der JVA aus“) verkauft der geschäftstüchtige Mörder seine Bilder und hat nun fast für den Rest seines Lebens ausgesorgt.

Aber auch gerade bei der Alltagskriminalität haben wir einen Zustand erreicht, der sich der Anarchie annähert: Straftaten sind im Wirtschaftsleben weitgehend üblich geworden. Die Bestechung hat bei uns Ausmaße angenommen, dass man uns getrost mit einer Bananenrepublik vergleichen kann. Entsprechendes gilt für die Steuerhinterziehung, denn auch bei ein paar Millionen Mark Schaden kann der Täter mit höchstens zwei Jahren Haft auf Bewährung rechnen. Der Fall des Vaters der Tennisspielerin Steffi Graf ist wohl einer der ganz wenigen, der wegen der exorbitanten Schadenshöhe, der Dreistigkeit des Täters und wegen des besonderen Interesses der Öffentlichkeit an dem Fall nicht ohne eine zu verbüßende Freiheitsstrafe ausgehen konnte.

 

Das absolute Chaos herrscht aber, wenn es um das ganz große Geld geht, nämlich an der Börse. Kursmanipulationen, Nutzung von Insiderwissen und dergleichen sind an der Tagesordnung. Ein unterbesetztes Bundesaufsichtsamt und Staatsanwälte, die vom Börsengeschehen nur wenig Ahnung haben, eröffnen den Tätern ein weitgehend störungsfreies Arbeitsgebiet. Sollte wirklich einmal jemand erwischt werden, wird die Angelegenheit meist in einem Deal erledigt, der eine akzeptable Bußzahlung vorsieht. Kommt es ausnahmsweise doch zu einem Strafverfahren, können die Strafen von den Verurteilten leicht aus der Westentasche bezahlt werden. Der spektakulärste Fall, den die Ermittler aufzudecken vermochten, war ein Insidergeschäft bei der Firma Weru: Das Aufsichtsratsmitglied Nothdurft hatte durch Nutzung seines Insiderwissens 1.200.000 DM verdient und wurde deshalb nur zu einer Million DM Geldstrafe verurteilt: Gewinn schlappe 200.000 DM!

Sehr instruktiv ist auch ein Detail, das im größten Wirtschaftsstrafprozess in Deutschland bekannt wurde: Als in der Flotex-Affäre Matthias Schneider zu 12 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, kam zur Sprache, dass er und sein Bruder sich schon vorher 17 Millionen DM Vorsteuer erschlichen hatten und dass das eingeleitete Strafverfahren gegen Bußzahlungen in Höhe von 60.000 bzw. 85.000 DM eingestellt worden war, ohne dass auch nur ein Pfennig der Steuern nachentrichtet wurde. Das musste doch von den Brüdern geradezu als Einladung aufgefasst werden, ihr Treiben fortzusetzen.

Das kann doch jeder skrupellose Geschäftsmann nur als Aufforderung betrachten, es genauso zu machen! Falls es für einen dieser Straftäter wirklich einmal ganz dick kommen sollte, schreckt ihn das wenig, denn er kennt das Zauberwort, das ihn vor zu großem Unheil oder Verlusten bewahrt: Er braucht nur anzudeuten, dass bei einer Bestrafung soundsoviele Arbeitsplätze verloren gehen. Dann kann er beispielsweise bei Steuerdelikten durchaus erreichen, dass er nicht einmal die hinterzogene Steuer voll nachzahlen muss.

 

 

Gerade bei der „Entsorgung“ zeigt sich am besten, wohin der Weg mit einer laschen Justiz führt: Radioaktive Abfälle werden aus Kostenersparnisgründen auf die Mülldeponie gefahren. Pharma-Konzerne lassen bei Hochwasser ihre giftigen Abfälle in den Rhein ab, von dessen Zustand die Wasserversorgung Hunderttausender abhängt. Und bei der BSE-Seuche sahen wir, dass das übrig gebliebene Rindfleisch in Würste „entsorgt“ wurde, die als garantiert rindfleischfrei bezeichnet werden und die daher eigentlich kein solches Fleisch enthalten durften. Bei Kontrollen wurde festgestellt, dass 5 von 6 Würsten falsch etikettiert waren. Sogar die verbotenen Tierkörperteile Augen und Hirn waren verwurstelt worden, obwohl davon besondere Gesundheitsgefahren ausgehen. An sich sind ja derartige Manipulationen fast als versuchter Massenmord zu bezeichnen, aber bei unserer zahnlosen Justiz werden solche Taten mit Bußen belegt, die locker aus dem Gewinn eines solchen Tuns bezahlt werden können. So geschieht das Unfassbare, dass unsere dritte Gewalt, die von Straftätern kaum mehr respektiert oder gar gefürchtet wird, auch noch Mitverantwortung für den möglichen Tod Tausender Menschen trägt, die demnächst an BSE erkranken können, wenn bestimmte medizinische Prognosen zutreffen: In Großbritannien beispielsweise haben Wissenschaftler jetzt schon hochgerechnet, dass dort 150.000 Menschen an der Creutzfeldt-Jacob-Krankheit, die mit großer Sicherheit durch BSE ausgelöst wird, sterben werden.

Wenn die Verbrechensbekämpfung richtig funktionieren würde, müssten sich die Steuerprüfer, Lebensmittelkontrolleure usw. selbst finanzieren oder sogar dem Staat einen Gewinn einbringen können. Aber bei den kläglichen Strafen, die von der Justiz zu erwarten sind, stößt die notwendige Kontrolle bald an die Grenzen, die vom Haushalt der Länder diktiert werden.

Manchmal gewinnt man den Eindruck, als stecke hinter den zeitweise immer seltener gewordenen Kontrollen sogar ein Prinzip: Spart man beispielsweise, wie es in manchen Bundesländern geschehen ist, einen Teil der für die Fleischkontrollen eingesetzten Veterinäre ein, so erzielt man damit einen doppelten Effekt: 1. Man braucht weniger Leute zu bezahlen. 2. Man bekommt weniger Anzeigen, und dadurch bessert sich die Kriminalstatistik. Allerdings kann man mit dieser Taktik die Arbeitslosenstatistik nicht verbessern.

 

Man muss sich schon allen Ernstes die Frage stellen, ob die Bundesrepublik bei den derzeitigen Verhältnissen überhaupt noch als Rechtsstaat bezeichnet werden kann. Es gibt viele hochwissenschaftliche Definitionen des Begriffs Rechtsstaat, doch nützen sie alle wenig. Für den Nichtjuristen und Normalbürger ist eigentlich nur interessant, ob das Recht durchgesetzt wird. Aber was ist das für ein Recht, das nicht einmal gewährleistet, dass man ungefährliche Nahrung zu sich nimmt? Ist das Recht überhaupt noch verbindlich, wenn nicht einmal diejenigen, die Vorbild sein sollten, sich daran halten? Kein Wunder, dass der schlichte Bürger nicht mehr auf Recht und Anstand achtet, sondern nur noch auf seinen eigenen Vorteil: So ist die Steuerhinterziehung inzwischen zum Volkssport geworden. Wie unglaublich die Entwicklung ist, die man hier beobachten kann, wird deutlich, wenn man sich die Verhältnisse im Dritten Reich vor Augen hält: Damals waren die Menschen bereit, Hab und Gut, ja sogar ihr Leben „für Führer, Volk und Vaterland“ zu opfern, heute drücken sie sich um jeden Pfennig bei der Steuer herum. All diese Erscheinungen sind auch durch die heutige Arbeitsweise der Justiz mitverursacht.

 

 

6.

 

Verantwortung zu tragen liegt nicht jedem Menschen. Deshalb gibt es Richter, die eine Akte nur daraufhin anschauen, wie sie sich aus ihrer Verantwortung davonstehlen können. Zwei Methoden bieten sich hierzu an:

 

1. Die Richter prüfen die formelle Seite des Falles nicht nur intensiv, sondern übertrieben pedantisch – dann werden sie sicher irgendwo einen kleinen Formfehler entdecken. Diesen können sie sehr gut zum Anlass nehmen, um eine umstrittene Entscheidung der Verwaltung aufzuheben. So halten sie sich nicht nur aus einem brisanten Fall heraus, sondern ersparen sich in der Regel auch sehr viel Arbeit. Weil dies so ist, kann man Juristen ganz schön ärgern und dabei sogar noch Wetten gewinnen: Nehmen wir an, der Bau eines Flugplatzes wird geplant: Die besten Juristen des Landes werden eingeschaltet, damit das Projekt auf jeden Fall „wasserdicht“ wird, also vor jedem Gericht Bestand hat. Kein einziger von den mit der Sache befassten Juristen zweifelt daran, dass die Gegner des Flughafens vor dem Verwaltungsgericht scheitern müssen, wenn sie dagegen Klage erheben. Nun kann man den Widerspruchsgeist dieser Juristen wecken, indem man einfach behauptet, man räume den Flughafengegnern durchaus gute Chancen ein. Natürlich werden die Juristen energisch protestieren. Jetzt kann man sie auch noch bei ihrem Ehrgeiz packen und fragen, ob sie denn bereit seien, bei einer Wette mitzumachen, und ob sie auf ihren Standpunkt setzen würden. Natürlich tun sie das, und dann kann man sicher sein, die Wette zu gewinnen, denn die Verwaltungsrichter setzen sich bei einem umstrittenen Projekt nicht gerne in die Nesseln; sie werden also nach irgendwelchen Verfahrensfehlern suchen und solche auch finden nach dem Motto: „Wer suchet, der findet!“ Der Fall wird also der Verwaltung zurück gegeben werden.

Wenn dann nach langer Zeit die Sache erneut vor das Gericht kommt, haben sich die erhitzten Gemüter der Beteiligten weitgehend abgekühlt, so dass die Entscheidung ohne die Brisanz von früher wesentlich einfacher gefällt werden kann. Inzwischen haben in der Regel auch die Richter von damals das Glück gehabt, anderswo beschäftigt zu sein.

So oder so ähnlich ist es jedenfalls beim Bau der meisten Flugplätze abgelaufen.

 

2. Man kann als Richter auch in einem Fall, den man nicht gerne selbst entscheiden will, überlegen, ob man nicht lieber aus irgendeinem Grund einem Sachverständigen die Verantwortung übertragen soll. Das hat in Zivilprozessen den Vorteil, dass man Prozesse richtig teuer machen kann. Auf diese Weise werden Parteien „weichgekocht“, d.h. vergleichsbereit gemacht. Wer zahlt schon gern für ein Gutachten eine Summe, die an den Streitwert selbst heranreicht? Irgendwann wird jede Partei bei einer derartigen Prozessführung knieweich und ist dann nur zu gerne bereit, einen Vergleich abzuschließen. Ein Richter, der so mit den Parteien umspringt, wird in der Regel gut beurteilt, weil eine hohe Vergleichsquote als Indiz für eine überzeugende Richterpersönlichkeit gilt.

 

Ureigenste Domäne der Richter ist an sich die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen. Einfacher ist es allerdings für jeden Richter, einen Sachverständigen einschalten, um dieses schwierige Problem lösen zu lassen.

Nicht selten sind die Richter auch zu bequem, um das Gesetz selbst anzuwenden. Sie holen sich schon sachverständigen Rat, wenn es nur um die Beantwortung von schlichten Fragen des internationalen Privatrechts oder um ähnliche ausgefallene Probleme geht. Man braucht sich dann nicht selbst anzustrengen, sondern kann andere für sich arbeiten lassen.

So ist es erst kürzlich in einem Strafverfahren wegen eines Konkursdelikts passiert, dass sich eine Strafkammer mit drei akademischen Richtern einen Rechtspfleger holte, also einen Nichtakademiker, um sich von ihm das Konkursrecht erklären zu lassen.

 

Die Einschaltung eines Sachverständigen hat einen weiteren großen Vorteil: der Akt ist für mindestens ein halbes Jahr weg. Viele Richter bemühen einen Sachverständigen auch mit dem Hintergedanken, dass sie bei Aktenrückkunft bereits ein anderes Referat zugeteilt bekommen haben und dann ein anderer diese Arbeit machen muss. Ein Richter äußerte einmal, es lohne sich eigentlich nicht, sich mit schwierigen Fällen zu befassen, denn bevor man die entschieden habe, komme man schon wieder in ein anderes Referat. Weil die Verhältnisse so sind, ist es durchaus nicht ungewöhnlich, wenn kompliziertere Fälle einfach liegen gelassen werden. Ein Richter, der ein Referat neu übernimmt, wird am Anfang kaum die Zeit haben, sich in ein altes Verfahren einzuarbeiten, das bei den Vorgängern schon viele Jahre anhängig war. Sollte sich irgendwann einmal sein Gewissen melden, ist es oft schon zu spät, da sich nämlich schon die Aussicht abzeichnet, dass ihm eine andere Arbeit zugewiesen wird. So kann es vorkommen, dass beispielsweise ein Kläger 26 Jahre lang auf sein Urteil warten musste, wie das Bundesverfassungsgericht kürzlich in einem Urteil beanstandet hat.

Irgendwie ist es ja völlig unverständlich, dass es derartige Fälle überhaupt gibt. An sich müsste es ja das Pflichtbewusstsein und den Ehrgeiz der Gerichte wecken, ihre ältesten Fälle möglichst schnell aufzuarbeiten. Die Richter stehen aber ständig unter dem Druck der Statistik: Ein Richter kann es sich normalerweise nicht leisten, etwa ein Vierteljahr lang nur ein Jahrzehnte altes Verfahren zu bearbeiten. Dann stünde nämlich praktisch nichts in seiner Erledigungsstatistik. Also befasst er sich in erster Linie mit den Neueingängen und sieht zu, dass er auf diese Weise ordentliche Erledigungsziffern zustande bringt. Dann erst macht er sich irgendwann einmal an seine ältesten Verfahren heran.

 

Bei Streitigkeiten über die Höhe von Wohnungsmieten ziehen Richter ausgerechnet Architekten (!) als Sachverständige hinzu, obwohl ein eingearbeiteter Richter von den Miethöhen wesentlich mehr verstehen müsste als ein Architekt. Aber die Einschaltung eines Sachverständigen hat für den Richter erhebliche Vorteile: Zum einen braucht der Richter die umstrittene Wohnung nicht selbst anzusehen. Zum anderen sieht sich der Richter dann nicht in einem Dilemma: Wenn er nämlich selbst die Miethöhe schätzt, wird in der nächsten Instanz mit Sicherheit ein Sachverständiger hinzugezogen, der todsicher zu dem Ergebnis kommt, dem Richter erster Instanz habe der notwendige Sachverstand gefehlt; sein Urteil wird also aufgehoben. Dagegen ist das Urteil praktisch unangreifbar, wenn es sich auf das Gutachten eines Sachverständigen stützt. Deshalb haben es die Sachverständigen auch mit Recht so weit gebracht, dass sie wesentlich mehr verdienen als die Richter.

Dass Sachverständige auch nur mit Wasser kochen und manchmal sogar mit trübem, sei mit folgender Geschichte demonstriert: Ein erfahrener Mietrichter pflegte die Parteien vor die Wahl zu stellen: entweder lassen sie die Miethöhe von ihm selbst schätzen und einigen sich darauf, dass die Schätzung unangreifbar sein soll, oder – was natürlich erheblich teurer kommt – es wird ein Sachverständiger eingeschaltet. Wenn sich die Parteien für die zweite Alternative entschieden, schätzte der Richter die Miethöhe trotzdem auch noch selbst und legte seine Einschätzung in einen Umschlag, den er verschloss. Sobald dann das Gutachten des Sachverständigen eintraf, öffnete er diesen Umschlag in der Sitzung und legte den Parteien und ihren Anwälten die darin enthaltene eigene Einschätzung vor, die sogar in den Stellen hinter dem Komma mit dem erholten Gutachten übereinstimmte. Natürlich haben sich dann die Prozessbeteiligten maßlos darüber geärgert, dass sie nutzlos so viel Geld für die Einschaltung eines Sachverständigen ausgegeben hatten, und sie haben sich natürlich gefragt: Wie kann das sein, dass der Richter schon vorher gewusst hat, was der Sachverständige erst in einem dicken Gutachten errechnete? Nun, der Richter war durch einfaches Nachdenken darauf gekommen, wie der Sachverständige verfahren ist: Seine seitenweisen bebilderten Beschreibungen der Wohnungen hatten nur den Sinn, den verdammt hohen Preis des Gutachtens zu rechtfertigen. In Wirklichkeit nahm der Sachverständige den Mietzins aus dem Mietvertrag, den die Parteien ursprünglich abgeschlossen hatten. Dann schaute er in der veröffentlichten Statistik nach, um wie viel Prozent sich die Mieten seit damals erhöht hatten. Um diesen Prozentsatz setzte er dann die Miete herauf. So gibt es viel Scharlatanerie im Sachverständigenwesen. Trotzdem hat es für den Richter zwei Vorteile, wenn er einen Sachverständigen einschaltet: Er braucht seinen Kopf weder anzustrengen noch hinzuhalten und das Urteil des Sachverständigen gilt immer mehr als das des Richters, und es gibt dagegen kein Rechtsmittel, höchstens in ganz seltenen Ausnahmefällen ein Obergutachten.

Die Richter interessiert meist nur, welche Quintessenz ein Gutachten hat, nicht aber, auf welchen Grundlagen es beruht oder ob es als plausibel erscheint. So kommt es zu Justizirrtümern, von denen hier nur einer aus Nürnberg herausgegriffen werden soll, über den kürzlich in den Medien berichtet wurde: Ein völlig unbeteiligter Mann wird wegen Bankraubs verurteilt und kommt erst nach 8 Jahren frei, nachdem der wirkliche Täter ein Geständnis abgelegt hat. Seine Verurteilung beruhte darauf, dass eine Kamera den Überfall aufgenommen und ein Sachverständiger geglaubt hatte, er könne den Täter auf Grund des fotografierten Ohres identifizieren. Das Urteil wäre sicherlich anders ausgefallen, wenn man dem Sachverständigen eine Vielzahl von Ohrenbildern aus erbkundlichen Gutachten vorgelegt hätte und wenn man ein Foto vom Ohr des Angeklagten darunter gemischt hätte. Wahrscheinlich hätte sich dann ergeben, dass das erstattete Gutachten doch auf recht zweifelhaften Erkenntnissen beruhte.

Weil die Gerichte ihre Arbeit so gerne den Sachverständigen zuschieben, ist diese Branche zu einem gewichtigen Wirtschaftszweig geworden, dem im „Spiegel“ (Nr.29/2000) sogar maffiose Strukturen nachgesagt werden. Das ist kein Wunder, wenn man sich überlegt, wie es in diesem Bereich zugeht:

Wer von einer großen Versicherung oder Berufsgenossenschaft als ständiger Gutachter beschäftigt wird, hat ausgesorgt. Er ist auf dem sichersten Weg, in kürzester Zeit Millionär zu werden. Auf diesen Weg kann er natürlich nur kommen und darauf bleiben, wenn er bei seinen Gutachten die Kasse der Versicherung im Auge behält. Eines Tages wird er sich dann auf Grund seiner Berufserfahrung in die Liste der öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen eintragen lassen. Dadurch hat er die Chance, dort arbeiten zu können, wo es sich besonders gut verdienen lässt, nämlich bei Gericht. Dem Gericht ist nämlich die Höhe der Kosten in der Regel gleichgültig, denn bezahlen müssen ja die Parteien. Zwar gibt es ein Gesetz für die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen, doch lassen sich damit - wenn man überhaupt Interesse daran hat - die Kosten nicht in den Griff bekommen. Wer will denn auch schon wirklich ermessen, wie viel Zeit ein Gutachter für seine Tätigkeit braucht? Es geht da wohl so zu, wie in diesem instruktiven Witz:

Ein Sachverständiger stirbt mit 35 Jahren und beklagt sich bei Petrus, dass er so früh ins Jenseits abberufen wurde. Darauf sagt Petrus zu ihm: „Nach der Zahl der Stunden, die du in deinem Leben berechnet hast, ist deine Zeit längst abgelaufen.“

Die Sachverständigen sind beim Erschließen neuer Kostenquellen auch sehr erfindungsreich. Wenn z.B. Fotos nur gering vergütet werden, gründen sie über ihre Ehefrauen eine Gesellschaft für technische Fotografie, die dann eine opulente Bebilderung des Gutachtens übernimmt. Die Anwälte streiten nicht gerne über die Höhe der Gutachterkosten, denn schließlich ist man ja auf die Sachverständigen angewiesen und sollte sie deshalb nicht verärgern.

Wer als Gutachter wirklich arriviert ist, hat es auch nicht mehr nötig, selbst zu arbeiten, sondern er braucht nur noch zu unterschreiben. So werden beispielsweise eine Vielzahl psychiatrischer Gutachten von Assistenzärzten gefertigt, während der Chefarzt nur noch für seine Unterschrift kassiert. Überhaupt muss man oft staunen, welche fast hellseherischen Fähigkeiten manche Sachverständige zu entfalten scheinen: In einer Strafsache wegen Totschlags erschien dem Verteidiger das Gutachten nicht plausibel genug. Deshalb fragte er seinen Mandanten, wie lange sich denn der Sachverständige mit ihm befasst hätte. „20 Minuten!“ war die Antwort, die dann auch vor Gericht vom Gutachter bestätigt wurde. Dennoch wurde das Gutachten vom Gericht akzeptiert nach dem Motto: Der Sachverständige muss wissen, wie viel Zeit er benötigt, denn schließlich hat er ja den notwendigen Sachverstand.

 

Wie naiv viele Richter sind, zeigt sich gerade im Bereich des Sachverständigenwesens, oder soll man besser sagen: des Sachverständigenunwesens? So wurde einmal ein Briefträger verurteilt, weil er jahrelang als psychiatrischer Sachverständiger bei Gericht aufgetreten war. Kein Richter hatte etwas gemerkt. Denn die Richter pflegen leider häufig ihr Gehirn abzuschalten, wenn ein Sachverständiger spricht.

Noch eine Bemerkung zum Thema Sachverständiger:

Die Staatsanwälte schalten natürlich, wenn es um die Zurechnungsfähigkeit eines Täters geht, gerne solche Sachverständige ein, die in der Regel die Schuldfähigkeit des Täters bestätigen werden. Da haben es die Verteidiger oft schwer, die Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen ihres Vertrauens genehmigt zu bekommen, um dadurch vielleicht für den Täter ein anderes Ergebnis zu erreichen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens würde an sich folgende Vorgehensweise erfordern: Da ein Verbrecher sowieso einen Verteidiger benötigt, muss ihm dieser notfalls vom Gericht zu Beginn des Verfahrens bestellt werden. Eigentlich sollte sich der Staatsanwalt dann mit dem Verteidiger in Verbindung setzen und mit ihm absprechen, wer als Gutachter für die Zurechnungsfähigkeit hinzugezogen werden soll. Mindestens sollte ein Verteidiger von sich aus früh an den Staatsanwalt herantreten und die Begutachtung seines Mandanten durch einen bestimmten Sachverständigen verlangen, denn - ironisch überspitzt könnte man sagen - nirgendwo gibt es so viele voreingenommene Menschen wie unter den Sachverständigen: Je nachdem aus welcher Fachrichtung oder „Schule“ sie kommen, so urteilen sie auch. Ein versierter Staatsanwalt oder Verteidiger kann ohne weiteres für eine bestimmte Fallkonstellation voraussagen, zu welchem Ergebnis ein bestimmter Gutachter kommen wird, und er wird natürlich auch einen anderen Gutachter kennen, der genau den gegenteiligen Standpunkt einnehmen würde. Das ist oft das Dilemma der Justiz, für das es vielfach kaum eine richtige Lösungsmöglichkeit gibt.

Es gibt nicht nur Menschen, sondern auch Sachverständige, die der Auffassung sind, ein Mensch, der mordet, könne nicht normal sein. Umgekehrt halten andere Psychiater praktisch jeden Mörder, der ein nachvollziehbares Motiv für seine Tat hat, für zurechnungsfähig. Wie leicht sich diese Sachverständigen aber irren können, ist beispielsweise bei dem Prozess gegen den berüchtigten Massenmörder Haarmann offenbar geworden: Der Gerichtspsychiater befand den Mann für voll zurechnungsfähig. Irgendwie kann bei einem solchen Urteil unterschwellig auch die öffentliche Meinung eine Rolle spielen: Wenn das Volk den Kopf des Mörders fordert, ist es nicht leicht, gegen diesen Trend aufzutreten und zu sagen, es würde sich um Entgleisungen eines kranken Menschen handeln. Nachdem Haarmann zum Tod verurteilt und hingerichtet worden war, wurde er seziert, und da entdeckte man einen Tumor in seinem Gehirn. Der Sachverständige soll über diese Tatsache und seine Fehlentscheidung nie hinweggekommen sein.

 

Bei Verfahren gegen Heranwachsende hat sich in der Justiz ein Trend herausgebildet, der fast zur Regel geworden ist. Wer in diesem Alter mordet, wird nach Jugendstrafrecht abgeurteilt. Man fragt sich, warum man dann erst noch teure Sachverständige einschalten muss, wenn das Ergebnis schon vorher feststeht. Bei kleineren Delikten kommt es jedoch vor, dass Heranwachsende je nach ihrer Entwicklung wie Erwachsene behandelt werden, doch trifft die Härte des Gesetzes meist diejenigen, die aus den unteren Schichten stammen. Bei ihnen nehmen die Sachverständigen an, dass ihre Entwicklung zur primitiven Persönlichkeit schneller abgeschlossen ist und dass sie daher früher einem Erwachsenen gleichzustellen sind. Kaum kommt aber ein Heranwachsender aus einer sogenannten besseren Familie, stellt dieselbe Tat für den Sachverständigen meistens nur eine jugendbedingte Entgleisung dar. Am vernünftigsten wäre es, wenn man aus Gründen der Gerechtigkeit ohne Sachverständigen alle Heranwachsenden nach dem Jugendstrafrecht aburteilen würde.

 

Ein Musterbeispiel dafür, dass den Sachverständigen zu sehr vertraut wird, ist eine der spektakulärsten Mordserien der Bundesrepublik, die tragischerweise auch noch zur Folge hatte, dass ein unschuldiger Tourist infolge einer Verwechslung von der Polizei erschossen wurde: Gemeint ist der Mordfall Zurwehme. Dieser Mann war bereits im Jahr 1974 wegen Mordes und mehrfacher Vergewaltigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und zu 12 weiteren Jahren verurteilt worden. Schon nach 10 Jahren wurde er gestützt auf Gutachter zum Freigänger. Durch diese Vergünstigung war es ihm möglich, sorgfältig seine Flucht zu planen und sich die Pistole, die er dann einer Frau an den Kopf hielt, zu beschaffen. Trotzdem wurde er einige Jahre später wiederum gestützt auf Gutachten in den offenen Vollzug verlegt. Er beging an einem einzigen Tag 4 Morde. Das Tragische an dem Fall war, dass sein behandelnder Therapeut vorher schon mitgeteilt hatte, Zurwehme denke schon wieder an Vergewaltigungen. Aber diese Äußerungen dürften wohl irgendwo auf dem Dienstweg des Sachverständigenwesens hängen geblieben sein, oder sie wurden überlesen. Warum soll es denn auch bei den Sachverständigen anders sein als bei den Gerichten?

 

Während es oft im Gerichtssaal zu wahren Gutachterschlachten kommt, wird es dagegen sehr interessant und sogar problematisch, wenn einmal ein Angeklagter nur schweigt und sich auch nicht explorieren lassen will. Nehmen wir an, ein Sexualmord an einem Mädchen wird erst nach Monaten über einen Gentest aufgeklärt: Wie will man ausschließen, dass der Täter damals im Alkohol- oder Drogenrausch gehandelt hat? Wie will man wissen, ob der Täter normal ist, wenn er noch dazu ein Einzelgänger ist, so dass man keine Zeugen über seine Wesensart befragen kann? Trotz dieser Zweifelsfragen kommt in derartigen Prozessen meistens das heraus, was sich unter diesen Bedingungen nicht vermeiden lässt, nämlich „lebenslänglich“.

 

Angepasstes Arbeiten nach dem Motto „nur nicht auffallen“ kann auch so aussehen: Ein Berufsrichter, der den Laienrichtern gegenüber in der Minderheit ist (wie z.B. beim Schöffengericht oder der kleinen Strafkammer), will sich nicht von seinen Beisitzern überstimmen lassen. Also schaut er im Sitzungskalender nach, wann welche Schöffen eingeteilt sind. Er wird beispielsweise in einer Rauschgiftsache als Laienbeisitzer keinen Sozialarbeiter nehmen und auch keinen Kandidaten der Grünen, denn sonst kann er fast sicher sein, dass der Angeklagte sogar dann Strafaussetzung zur Bewährung erhält, wenn dies nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung unzulässig ist; die Laienbeisitzer berufen sich nämlich auf ihre Unabhängigkeit und auf ihr Gewissen. In einem solchen Fall ist für den Berufsrichter vorauszusehen, dass sein Urteil auf ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hin aufgehoben würde. Was soll also der nutzlose Leerlauf? wird er sich fragen; außerdem wird er fürchten, dass die Aufhebung des Urteils ihm persönlich zum Nachteil angerechnet wird mit der Erwägung, er strahle zu wenig Autorität auf die Schöffen aus, um sie vom richtigen Weg überzeugen zu können. Also wird der Richter für diesen Fall lieber einen Termin heraussuchen, wo vielleicht ein pensionierter Polizist und ein Sportlehrer für den Schöffendienst eingeteilt sind.

So kann man mit Erstaunen feststellen, dass das Ergebnis eines Strafprozesses durchaus auch manipulierbar ist. Gute Verteidiger wissen das und spenden daher großzügig für die Kaffeekasse der Strafgerichtsgeschäftsstellen. Wenn in einer Geschäftsverteilung Strafsachen nach Eingangsnummern zugeteilt werden, kann es sein, dass beispielsweise das für die geraden Nummern zuständige Gericht allgemein oder in bestimmten Fällen wesentlich milder ist als das andere, das sich mit den ungeraden Eingangszahlen zu befassen hat. Da kann dann ein Verteidiger schon einmal in der Geschäftsstelle die Bitte äußern, seinem Fall eine gerade Nummer zuzuteilen, damit er die Sache so vor ein ihm genehmeres Gericht bringen kann.

 

Weil der Richter im Grunde genommen nur nach der Statistik beurteilt wird, empfiehlt es sich für ihn, ständig die Statistik im Auge zu behalten. Ein Zauberwort könnte zum Beispiel heißen: „Aus eins mach zwei!“ Tatsächlich ermöglicht es die Statistik, aus einem Verfahren zwei zu machen: Lässt ein Richter ein Zivilverfahren länger als 6 Monate ruhen, wird es in der Statistik als erledigt behandelt und bei der Wiederaufnahme neu eingetragen. Gerade bei komplizierten Prozessen empfiehlt sich diese Vorgehensweise, die dazu noch den großen Vorteil hat, dass – statistisch gesehen – kein Verfahren zu lange dauert. Nun ist es freilich so, dass nicht der Richter von sich aus normalerweise das Ruhen des Verfahrens anordnen kann, sondern er braucht die Mitwirkung der Parteien. Sollte aber der Richter in einem umfangreichen Bauprozess feststellen, der Vortrag der Parteien sei so unzulänglich vorbereitet, dass eine sorgfältige Nacharbeit nach seiner Meinung mindestens ein halbes Jahr dauert, so wird es wohl kaum ein Anwalt wagen, sich dagegen zu wehren, dass das Verfahren dann auf Vorschlag des Richters 6 Monate lang ruht. Ein Richter empfahl den Anwälten grundsätzlich in komplizierten Verfahren, sich zunächst einmal zur Abklärung des Streitstoffs zusammenzusetzen und das Verfahren ruhen zu lassen mit der Folge, dass ein großer Teil dieser Prozesse nie mehr vor Gericht aufgenommen wurde. Wenn ein solches Verfahren aber dann doch wieder fortgesetzt wurde, musste es neu eingetragen werden. Der Richter hatte also aus einem Fall zwei gemacht, mit der Folge, dass er bei seinem erheblich vergrößerten Geschäftsanfall nun natürlich entlastet werden musste. Nehmen wir an, er hätte mit diesem Trick das oben erwähnte 26 Jahre alte Verfahren statistisch erledigt, so würde er in den Augen seines Dienstvorgesetzten als besonders tüchtig da stehen. Sein Chef wird sich kaum die Zeit für wirkliche Nachforschungen nehmen, sondern die Statistik seiner Richter zur Grundlage seiner dienstlichen Beurteilungen machen, denn schließlich ist ja das geleistete Arbeitspensum das wichtigste Kriterium.

Es gäbe noch viele an sich durchaus legale Tricks, um die Erledigungsstatistik zu verbessern. Daneben existieren aber auch, wie bei den Arbeitsämtern aufgedeckt wurde, zahlreiche krumme Touren, die es ermöglichen, aus einem „Faulpelz“ ein „Arbeitstier“ zu machen.

Wenn ein Justizministerium wirklich ernsthaft durchgreifen wollte, müsste es sich alle Verfahren melden lassen, die – ungeachtet aller statistischen Tricks – von ihrem echten Beginn an beispielsweise 5 Jahre lang anhängig gewesen sind. Sollte dann eine Nachprüfung ergeben, dass Verfahren mit zu wenig Nachdruck betrieben wurden, könnte man dem betreffenden Gericht durchaus unangenehme bürokratische „Daumenschrauben“ anlegen.

 

Auch gerade die Staatsanwälte haben vielfältige Möglichkeiten, die Statistik zu verschönern. Vielleicht sind die formellen Details hierzu nicht so besonders interessant. Deshalb sei hier nur auf die Zahlen eingegangen, die ständig Gegenstand öffentlicher Erörterungen sind, nämlich diejenigen der Kriminalstatistik. Jedes Bundesland möchte natürlich den Nachweis erbringen können, dass dort weniger Verbrechen begangen werden und dass die Aufklärungsquote sehr hoch ist. Wie kommt man zu einer guten Statistik? Wenn Sie zum Beispiel nachts auf der Reeperbahn bummeln und hinterher feststellen, dass man Ihnen die Reifen Ihres Fahrzeugs zerschnitten hat, werden Sie bestimmt die bekannte Davidswache aufsuchen. Auch wenn es bereits nach Mitternacht ist, wird man dort mit preußischer Korrektheit Ihre Anzeige aufnehmen. Wenn Ihnen Ähnliches in München bei einem nächtlichen Schwabingbummel passiert und Sie erst am nächsten Morgen bei der Polizei erscheinen können, wird Sie der Beamte vielleicht mit folgender Frage überraschen: „Was glauben Sie denn: Wir sind eine Millionenstadt - wie soll man da einen Rei- fenaufschlitzer finden? Und wenn wir ihn finden, wird der sowieso kein Geld haben, um die Reifen zu bezahlen.“ Das leuchtet Ihnen ein. Sie werden aber einwenden, dass Ihre Versicherung die Erstattung einer Anzeige verlangt. Aber auch da weiß der Beamte Rat: „Ich gebe Ihnen meine Karte als Nachweis, dass Sie hier waren. Wenn Sie aber unbedingt eine Anzeige erstatten wollen, müssen Sie morgen wieder kommen. Heute sind wir unterbesetzt!“ Wer wird sich nun wirklich noch einen Tag frei nehmen, um erneut zu dieser Polizeistation zu fahren? Wohl kaum einer. Durch dieses Verhalten tragen Sie ohne Ihr Wissen mit dazu bei, dass die Aufklärungsstatistik nicht mit aussichtslosen Fällen belastet wird.

 

Nun werden Sie vielleicht meinen: Die Polizei hat einfach heutzutage für solche Bagatellen keine Zeit mehr. Nehmen wir daher also als Beispiel einen Mordfall: Ein schwerreicher Mann verleiht in seinem Nobelclub nach und nach Tausende von DM an seine Freunde. Weil alle Kameraden sind, werden natürlich keine Schuldscheine ausgestellt, denn das würde ja bedeuten, dass man sich misstraut. Eines Tages beim Altherrenfußballspiel fällt der Millionär tot um. Seine letzten Worte waren: „Mich hat da etwas gestochen!“ Tatsächlich ist an einer Stelle ein Stich zu sehen, so dass die Mitspieler eine allergische Überreaktion vermuten. Der Arzt stellt aber einen plötzlichen Herztod fest und meint, der Mann habe sich beim Fußballspiel übernommen. Damit will sich seine Frau allerdings nicht zufrieden geben. Sie ist sich sicher: ihr Mann ist während des Spiels mit einer Giftspritze umgebracht worden. Sie teilt ihren Verdacht der Polizei mit, die allerdings findet: „Liebe Frau, Sie lesen zu viele Krimis!“ Es geschieht also nichts, und so wird die Statistik wieder einmal nicht durch einen schwer aufklärbaren Fall belastet. Zitieren wir hierzu einen bekannten Gerichtsmediziner: „Die Friedhöfe sind voll von Mordopfern, bei denen nicht einmal bemerkt wurde, dass sie eines unnatürlichen Todes gestorben sind.“ Nach Schätzungen von Rechtsmedizinern und Kriminalbeamten bleibt sogar jeder zweite Mord in Deutschland unentdeckt. Wie kann es das geben, wo doch ein Totenschein von einem Arzt erst nach einer eingehenden Untersuchung des Verstorbenen ausgestellt werden darf? Nun, stellen Sie sich vor: Sie sind Arzt und werden zu einem Toten gerufen, um die Leichenschau vorzunehmen: Alles scheint äußerlich in Ordnung zu sein: ein ganz normaler Todesfall eines älteren Menschen durch Herzstillstand. Warum sollte man da mit so viel Mühe und Aufwand einen Verstorbenen noch genauer untersuchen und womöglich sogar ausziehen, um nach irgendwelchen Einstichen oder anderen Verletzungen zu suchen? Könnte man sich nicht vielleicht sogar dadurch in Verruf bringen?

 

Zeitaufwendige Arbeiten, die zwar wichtig sind, aber statistisch nicht in Erscheinung treten, werden von vielen Richtern einfach weggelassen. Beispielsweise soll laut Vorschrift ein Jugendrichter einen Jugendlichen, der gerade verhaftet wurde, in seiner Zelle im Gefängnis besuchen. Dies hat nicht nur den Sinn, Selbstmordversuche zu verhindern, sondern die Besuche des Richters sind auch geeignet, die künftige Hauptverhandlung stark zu vereinfachen, weil der Richter sieht, wie sich der Jugendliche nun zu seinen Taten stellt. Trotzdem kommt es praktisch kaum vor, dass ein Richter sich in dieser Weise um seine Häftlinge kümmert. Ein junger Richter, der das Gesetz in dieser Beziehung sehr ernst nahm, machte eine ganz merkwürdige Erfahrung. Weil er des öfteren pflichtbewusst in der Justizvollzugsanstalt erschien, um die jungen frisch inhaftierten Burschen zu besuchen, geriet er in den Verdacht, homosexuell zu sein mit der Folge, dass er heimlich beobachtet wurde.

 

Viele Richter nehmen sich nicht einmal die Zeit, die Bestimmungen genau zu lesen, die für sie einschlägig sind. So kann man immer wieder beobachten, dass Richter nicht inhaftierte Angeklagte auf eine mit Barrieren umgrenzte Anklagebank verweisen, die eigentlich für Untersuchungshäftlinge bestimmt ist. Wenn nun ein Verteidiger dagegen protestiert, nützt dies gar nichts. Erst dann, wenn er auf die einschlägige Bestimmung der Richtlinien für das Strafverfahren verweist, hat er Erfolg.

 

Wie wenig sich die Richter teilweise mit dem Recht auskennen, mit dem sie nicht direkt zu tun haben, ist besonders in bezug auf den Datenschutz gut zu beobachten. Während es früher üblich war, dass Straftaten, die bei einem Zivilrechtsstreit festgestellt wurden, grundsätzlich der Staatsanwaltschaft gemeldet wurden, ist dies heute nicht mehr der Fall. So wird beispielsweise häufig sogar der Lohn für verbotene Schwarzarbeit eingeklagt, weil man sich sicher ist, dass die Staatsanwaltschaft nichts erfährt. Wenn man die Richter darauf anspricht, hört man immer wieder das Gleiche: Sie sind froh, wenn sie ihre Arbeit erledigt haben und wollen dann nicht noch anschließend denselben Aufwand betreiben, um zu prüfen, wie weit ihre Schweigepflicht geht. Eine der wenigen Ausnahmen war vor längerer Zeit der Amtsrichter, der sich in einem Zivilprozess mit dem Vater der Tennisspielerin Steffi Graf zu befassen hatte. Weil dem Richter in seinem Verfahren manche Zahlungsvorgänge merkwürdig vorkamen, schaltete er die Staatsanwaltschaft ein. Entweder muss dieser Mann sehr alt gewesen sein, so dass der Datenschutz nicht zu seinem juristischen Handwerkszeug gehört hat, oder er muss sich ausnahmsweise die Mühe gemacht haben, sich durch den einschlägigen Gesetzesdschungel durchzuarbeiten.

 

In diesem Zusammenhang ist es angebracht, auf die wenig beneidenswerte Lage der Journalisten hinzuweisen, die über Strafverfahren berichten wollen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung muss bei der Berichterstattung abgewogen werden zwischen den Informationsbedürfnissen der Öffentlichkeit und den schützenswerten Belangen des Betroffenen Täters. Diese komplizierte Rechtsprechung ist mit eine der Ursachen dafür, dass gerade die Lebensmittelskandale immer mehr zunehmen, denn die Täter vertrauen darauf, dass die Journalisten aus Angst vor Schadensersatzforderungen keine Namen und genaue Einzelheiten veröffentlichen.

 

Wie schon erwähnt, erleichtern sich viele Richter die Arbeit dadurch, dass sie nicht genau nach dem Gesetz verfahren. Dies wird auch im Rahmen der dienstlichen Beurteilungen kaum überprüft: Beispielsweise sollen zu Verhandlungen vor Zivilgerichten die Parteien geladen werden. Wenn der Gesetzgeber in der betreffenden Bestimmung der Zivilprozessordnung von „sollen“ spricht, heißt dies für den Richter im Normalfall, dass er das Verlangte tun muss. In der Praxis muss man aber feststellen, dass in fast keinem Fall die Parteien vorgeladen werden, denn wenn sie da sind, wollen sie natürlich auch reden, und das kostet wieder mehr Zeit. Häufig kann man auch beobachten, dass die Richter die Parteien überhaupt nicht reden lassen, indem sie unter Berufung auf die Zivilprozessordnung (!) dazwischen rufen: „....bitte nur über Ihren Anwalt“ usw. Da vergeht den Parteien schnell die Lust, noch einmal den Mund aufzumachen. Wie wenig die Parteien manchmal in ihrem Prozess zu Wort kommen, zeigt sich am eindrucksvollsten bei dem Bericht, den einmal ein Mandant über seine Scheidung erstattete: „Kaum habe ich gesagt, wie ich heiße, war ich auch schon geschieden.“

 

Was den meisten Richtern nicht klar zu sein scheint, ist, dass sie sozusagen „ein Produkt verkaufen“, nämlich Gerechtigkeit. Sie tun das aber so mangelhaft, dass sie in der Bevölkerung nicht besonders angesehen sind. Es gibt nur wenige Richter, die die Parteien ausreden lassen. Aber: Nur wenn die Parteien alles gesagt haben, was nach ihrer Meinung zur Sache gehört, ist der Prozess aus ihrer Sicht fair verlaufen. Die meisten Menschen haben vielleicht ein- oder zweimal in ihrem Leben mit dem Gericht zu tun. Was macht es da für einen Eindruck auf sie, wenn man sie in einer Sache, die sie für wichtig halten, nicht ausreden lässt? Nur selten nimmt sich ein Gericht wirklich die Zeit, mit den Parteien alles zu besprechen. Die Parteien gehen dann zufriedener nach Hause, auch wenn sie den Prozess verlieren sollten. Jemand drückte es einmal so aus: „Ich halte zwar Ihre Meinung nicht für richtig, Herr Richter, aber ich kann nun verstehen, warum sie diesen Standpunkt einnehmen.“

Die meisten Verhandlungen sind eigentlich gar keine, so dass man sich wundert, weshalb die Gerichte den Prozess nicht gleich im schriftlichen Verfahren erledigt haben. Da fahren Anwälte beispielsweise 50 km zum Gericht nur, um einen Antrag aus einem Schriftsatz zu verlesen und um zu hören, dass auch der Anwalt des Gegners dasselbe tut. Diesen beiden Sätzen, die von den Anwälten vorgetragen werden, folgt nun noch ein dritter von Seiten des Gerichts mit dem Inhalt, dass ein Termin zur Verkündung einer Entscheidung bestimmt wird. Nach ungefähr einer Minute ist alles vorüber. Das Ganze nennt sich dann „Verhandlung“. Eigentlich sollte jeder Anwalt gegen einen solchen Unsinn protestieren oder von sich aus das Wort ergreifen und Ausführungen zu seinem Fall machen, doch die meisten trauen sich leider nicht aus Angst, die Richter könnten ihnen das übel anrechnen.

 

Man kann die Richter in 2 Kategorien einteilen: Die einen beschäftigen sich ständig mit einem bestimmten Spezialgebiet mit der Folge, dass diese Leute wirkliche Spezialisten werden. Die anderen glauben es, wenn ihnen ihr Dienstvorgesetzter sagt, sie müssten durch ständige Referatswechsel ihre geistige Wendigkeit unter Beweis stellen, um befördert zu werden. Das ist dann etwa so, wie wenn ein Arzt zwei Jahre als Gynäkologe arbeitet, um anschließend für einige Zeit als Zahnarzt zu wirken. Will man beispielsweise einer bestimmten Person eine bestimmte Position zukommen lassen, braucht man sie nur längere Zeit in einem Spezialgebiet zu beschäftigen. Irgendwann wird sie dann dort mehr können, als ein begabterer Kollege, der ständig herumgestoßen wurde.

 

Die Tatsache, dass das Justizpersonal praktisch gezwungen ist, sich ständig irgendwie anzupassen, hinterlässt natürlich Spuren: Zivilcourage ist etwas, was man bei der Justiz suchen muss. Dies lässt sich am besten mit einem Vorkommnis belegen, das zwar schon einige Zeit zurück liegt, aber dafür umso eindrucksvoller ist: Als vor der Wiedervereinigung eine Juristentagung in Berlin stattfand, stand selbstverständlich auch ein Besuch der DDR auf dem Programm. Man fuhr mit zwei Bussen hinüber und besichtigte in Ostberlin eine Ausstellung über die Aufbauleistungen des „Arbeiter- und Bauernstaates“. Die Ausstellung war insofern unglaublich, als gefälschte Ansprachen westdeutscher Politiker zum Krieg gegen die DDR aufriefen usw. Als man die Ausstellung wieder verließ, standen am Ausgang zwei Volkspolizisten - sinnigerweise mit Stahlhelm und MP. Sie traten der Gruppe in den Weg und forderten sie auf, ihre Eindrücke ins Gästebuch zu schreiben. Man konnte nun etwas Erstaunliches beobachten: Die Leute waren aus Vorsicht und Angst umso feiger, je höher ihr Dienstrang war. Der eine sang ein hohes Loblied auf die DDR und rechtfertigte dies hinterher damit, dass er unter Erpressung gestanden sei und seine Erklärung selbstverständlich „anfechte“. Der nächste zeigte sich „tief beeindruckt“ und sagte hinterher, er habe natürlich negative Eindrücke gemeint. Und so ging es weiter. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die DDR-Behörden alle diese Notizen veröffentlicht und dazu geschrieben hätten, von wem sie stammten. Aus der gesamten Juristen-Gruppe verhielt sich nur ein älterer schlichter Amtsrichter anders als seine meist höherrangigen Kollegen: Er sagte zu den Vopos, was denn passieren würde, wenn man etwas Negatives in das Gästebuch hineinschreibe. „Ganz einfach!“ entgegneten diese: „Das wird herausgerissen“. „Dann sparen wir uns halt die Arbeit!“ sagte der Amtrichter und lachte herzlich zusammen mit den Vopos. Einer der beiden fragte noch: „Das waren doch lauter bessere Leute, nicht wahr?“ „Wie man's nimmt!“ antwortete der Amtsrichter, worauf sich alle drei wieder amüsierten.

Weil wir gerade bei der DDR sind: Während der Existenz des „Arbeiter- und Bauernstaates“ wurden eine Reihe von Ermittlungsverfahren gegen ostdeutsche Politiker eingeleitet. Solche politischen Verfahren werden höherrangigen Beamten der Staatsanwaltschaft zugeteilt. Einer, der immer stolz in allen Verfahren seinen Titel führte, signierte plötzlich unleserlich ganz anders als sonst und ohne jede Amtsbezeichnung. Der Mann hatte offensichtlich Angst, Westdeutschland könnte von der DDR vereinnahmt werden mit der Folge, dass er dann zur Rechenschaft gezogen werden könnte.

 

Normalerweise wird der Mensch durch seinen Beruf in seiner Wesensart geprägt. Deshalb sollte man annehmen, dass gerade die Richter wegen ihrer besonderen Stellung in der Gesellschaft auch echte Persönlichkeiten sein müssten, die man auf den ersten Blick an ihrer Ausstrahlung und Autorität erkennen kann.

Gelegentlich kann man aber bei Gericht folgende erstaunliche Beobachtung machen: Wenn gebildetere Damen vor dem Amtsgericht als Zeuginnen auftreten, meinen sie nicht selten, der amtierende Richter sei nur der Protokollführer, der alles für das später entscheidende Gericht notiere. Sie sind dann sehr erstaunt, wenn man sie darüber aufklärt, dass sie mit dem Richter persönlich gesprochen haben. Dann sagen sie ganz überrascht: „Einen Richter hätte ich mir aber ganz anders vorgestellt.“

Das Bild, das sich vielleicht ein Laie von einem idealen Richter macht, war einmal in Oberammergau in einem Schaufenster eines Bildschnitzers zu sehen. Dort war ein großartiges Schnitzwerk ausgestellt, das den Titel „Das Gericht“ trug. Die dargestellten Richter waren ausgeprägte Persönlichkeiten, wie es sie heutzutage nur noch selten gibt. Kein Wunder, dass man den Schnitzer fragte, wen er denn als Vorbild für sein Werk genommen habe. Er sagte:

„Es sind indische Schäfer, die ich anlässlich einer Urlaubsreise fotografiert habe.“ Als er merkte, dass seine Antwort doch etwas überraschte, meinte er:

„Wir leben heute in einer Zeit der Nivellierung, in der es kaum noch echte Persönlichkeiten gibt, sondern stattdessen viele gestörte Charaktere. Schauen sie doch einmal in ein Gericht hinein: da sitzen fast nur Schreiberlinge.“ Der Leser ahnt wahrscheinlich schon bei diesen bitteren Worten, dass der Schnitzer sicher gerade einen Prozess verloren hatte. Er gestand dies zu und ergänzte: „Aber zu Unrecht und nur, weil man mich nicht zu Wort kommen ließ.“ Nehmen wir also seine Äußerungen als die eines Mannes, der von der Justiz schwer enttäuscht worden war. Aber ein wenig nachdenken sollte man schon darüber.

 

 

 

7.

 

Nehmen wir einmal an, Sie haben - was Gott verhüten möge - einen Autounfall. Wenn Sie dabei schwer verletzt werden, sind Sie auf Gedeih und Verderb auf das Können des Chirurgen angewiesen, der Sie dann operiert. Kein „Patientenanwalt“ hilft Ihnen dabei, wenn es um die Frage geht, ob vielleicht bei Anwendung einer riskanteren Operationsmethode ein besseres Ergebnis zu erzielen ist.

Während der Arzt sich um die Gesundheit kümmert, bleibt den Juristen das Blech und natürlich auch das Problem, wer den Unfall verschuldet hat. Sollten Sie das Pech haben, dass Sie mit einem Heranwachsenden zusammengestoßen sind, kann es durchaus sein, dass sich so nach und nach mehr als 20 Juristen um diesen Fall bemühen müssen, wenn sowohl der Jugendrichter wie auch der Einzelrichter (für Erwachsene zuständig) sich der strafrechtlichen Seite des Falles annehmen und der Prozess jeweils nicht in der ersten Instanz abgeschlossen wird. Außerdem kann jeder Unfallbeteiligte seinen Schaden natürlich auch noch selbständig einklagen und dabei durch mehrere Instanzen gehen. Natürlich könnte man auch nach der heute geltenden Strafprozessordnung alles in einem „Aufwasch“ erledigen, doch kommt dies in der Praxis nicht vor: Der Jugendrichter halst sich keine zusätzliche Arbeit mit dem Erwachsenen auf, ebenso mag sich der Strafrichter nicht gerne auf das für ihn etwas fremde Glatteis des Zivilrechts begeben.

Der Fall zeigt deutlich, dass eigentlich viel zuviel Aufhebens um den Sachschaden bei einem Verkehrsunfall gemacht wird.

Das besonders Merkwürdige daran ist, dass derjenige, der einen größeren Blechschaden vor Gericht bringt, gleich drei Instanzen bemühen kann, obwohl es dabei nur um Geld geht. Wenn es dagegen um das Leben selbst geht oder besser gesagt: um „lebenslänglich“, wenn also einer wegen eines Totschlagsdelikts vor dem Schwurgericht steht, hat er nur noch eine zweite Instanz zur Verfügung. Diese prüft auch nicht den ganzen Fall nach, sondern nur, ob irgendwelche Rechtsfehler unterlaufen sind. Offenbar ist der Justiz das Geld wichtiger als die Existenz eines Menschen.

 

Das strafprozessuale Revisionsrecht ist so voll von Merkwürdigkeiten und Zufälligkeiten, dass allenfalls Juristen verstehen, warum es so ist. Seltsam ist, dass es nicht schon längst reformiert wurde. Vielleicht wird das am besten durch Beispiele verdeutlicht:

In einem länger dauernden Mordprozess hält am letzten Verhandlungstag der Verteidiger sein Plädoyer. Da es für die Protokollführerin praktisch nichts zu tun gibt, teilt man eine junge, unerfahrene Kraft ein. Ihre Aufgabe ist so lächerlich einfach, dass man sich fragt, ob hierfür überhaupt ihre Anwesenheit notwendig ist: Sie muss nur bestätigen, dass der Verteidiger seine Ausführungen gemacht und dass der Angeklagte das letzte Wort gehabt hat. Zu allem Überfluss ist dies sowieso schon im amtlichen Protokollvordruck bereits enthalten. Die junge Protokollführerin schreibt deshalb überhaupt nichts mit und passt auch meistens gar nicht besonders auf. Die Akten durchlaufen in der Folgezeit die verschiedensten Stationen: mal sind sie bei den Richtern, mal befinden sie sich bei den Protokollführern der Vortage, damit diese ihr Schreibwerk fertigen. Als dann am Schluss die junge Protokollführerin an die Reihe kommt, trifft sie die volle Verantwortung ihrer Tätigkeit. Sie bekennt plötzlich, sie wisse nicht mehr, ob der Angeklagte das letzte Wort gehabt habe. Ihren Erinnerungslücken können auch nicht die Versicherungen sämtlicher Richter nachhelfen. Auch eine Rückfrage beim Verteidiger lehnt sie ab, da sie selbst auf Grund ihres eigenen Wissens das Protokoll zu fertigen habe. Sie bleibt dabei: Sie kann nicht auf ihre Kappe nehmen, dass der Angeklagte das letzte Wort gehabt hat. Die Folge davon ist, dass das Urteil in der Revisionsinstanz aufgehoben und der ganze Prozess neu aufgerollt werden muss.

Das Dumme an der bestehenden Rechtslage ist, dass das Revisionsgericht derartige Fehler nicht selbst beheben kann bzw. muss. Warum sollte nicht das Revisionsgericht das letzte Wort nachholen können und dann entscheiden dürfen, ob es überhaupt einen Einfluss auf die Entscheidung gehabt hätte?

Nun, über diesen Punkt mag man durchaus streiten können, wenn man will. Deshalb soll die mangelnde Praxisbezogenheit des Revisionsrechts mit den Fällen belegt werden, die am meisten vorkommen:

 

Zum täglichen Brot der ersten Instanz gehört es, dass sie sich mit Beweisanträgen herumschlagen muss, denen oft jeder sachliche Hintergrund fehlt. Da wird beispielsweise ein Zeuge N.N. in letzter Minute benannt, um dem Angeklagten ein Alibi zu bestätigen. Oder es wird im Plädoyer für den Fall der Verurteilung zunächst verlangt, dass ein in Lagos wohnhafter Zeuge gehört wird. Lehnt das Gericht in erster Instanz derartige Beweisanträge ab, so kann es durchaus sein, dass das Revisionsgericht anderer Auffassung ist. Dies hat dann die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung des Prozesses an ein anderes Instanzgericht zur Folge. Das ist dann besonders ärgerlich, wenn es um einen sehr schwierigen und langwierigen Prozess geht: Dann müssen sich wieder Richter in eine - oft viele Ordner füllende - fremde Materie einarbeiten, und ihre Arbeitskraft kann durch den zurückverwiesenen Prozess auf Monate hinaus gebunden sein. Könnte das Revisionsgericht selbst diese Beweise erheben, wäre dies völlig überflüssig. Würde das Revisionsgericht den Beweisanträgen nachgehen, die oft nur aus prozesstaktischen Gründen gestellt wurden, so ergäbe sich in einer hohen Prozentzahl der Fälle, dass diese Anträge überhaupt nichts bringen: Entweder existieren die Zeugen nicht oder sie sind nicht zu ermitteln oder sie können nichts zum Beweisthema sagen. In all diesen Fällen könnte das Revisionsgericht selbst abschließend nach einer kurzen ergänzenden Beweisaufnahme ohne großen Zeitaufwand entscheiden. Dies gilt beispielsweise auch dann, wenn der Zeuge erkennbar vor dem Revisionsgericht lügt. Für eine Zurückverweisung sollte also nur dann Raum sein, wenn nicht entschieden werden kann, wie sich eine für den Angeklagten günstige Aussage in das sonstige Bild der Beweisaufnahme einfügt. Normalerweise sollte aber das Revisionsgericht gesetzlich verpflichtet werden, einen Fall abschließend zu behandeln. Das würde nur zu einer ganz geringen Mehrbelastung der Revisionsgerichte, aber zu einer gewaltigen Entlastung der Justiz insgesamt führen.

Der derzeitige Rechtszustand ist vor allem deshalb untragbar, weil das Revisionsgericht machen kann, was es will: Die Richter können, wenn sie es mit einer Vielzahl von Revisionsrügen zu tun haben, nur die eine heraussuchen, die durchgreift, und das Urteil der Vorinstanz deswegen aufheben. Wenn sich dann die untere Instanz erneut mit dem Fall befassen muss, weiß keiner der Richter, wie man sich bei den Verfahrensfragen zu verhalten hat, die ebenfalls Gegenstand der Revisionsschrift waren. So kann es passieren, dass sich die Revisionsinstanz mehrfach mit einem Fall befassen muss. Wenn dann irgendwann einmal nach Jahr und Tag eine Verurteilung rechtskräftig wird und die Strafe vollstreckt wird, hat das Ganze oft mit Gerechtigkeit nicht mehr viel zu tun, denn die Strafe soll ja, wie das Sprichwort sagt, auf dem Fuße folgen.

Sehr pflichtbewusste Richter der Revisionsinstanz machen sich allerdings mehr Arbeit und geben der unteren Instanz nähere Hinweise für das weitere Verfahren, damit bei der Wiederaufrollung des Verfahrens kein weiterer Fehler gemacht wird.

Ähnlich wie beim Revisionsgericht geht es auch beim Bundesverfassungsgericht zu. Im Fall des Ministerpräsidenten Koch hat dieses Gericht beispielsweise lediglich über die Frage entschieden, ob das mit der Sache befasste Gericht ordnungsgemäß besetzt war. Die anstehende Kernfrage aber, ob bei der Wahl manipuliert worden ist, wurde im Urteil mit nebulösen Andeutungen behandelt etwa so, als ob man das Orakel von Delphi befragt hätte. Und so hat dann das hessische Wahlprüfungsgericht wohl auch nicht recht gewusst, was nun zu tun sei, und hat das Verfahren eingestellt. Fazit des Ganzen: Nach der Rechtskultur (oder soll man sagen: Leitkultur?) unseres Landes ist es nicht als sittenwidrig anzusehen, wenn eine Partei ihren Wahlkampf mit mindestens einer Million DM Schwarzgeld bezahlt. Man sieht: der allgemeine Verfall der guten Sitten breitet sich überallhin aus.

Um aber wieder auf das Strafprozessrecht zurückzukommen: Das Schlimme an unserem Rechtszustand ist, dass das Revisionsgericht nur nachprüft, ob das Gericht auf den festgestellten Sachverhalt bezogen das Gesetz richtig angewandt hat. Es wird aber die viel wichtigere Frage nicht untersucht, nämlich die, ob das Gericht gerade den wichtigen Sachverhalt auch richtig erfasst hat. Wir erinnern uns, dass hier nach Auffassung der Anwälte eine Fehlerquote von 50 % liegen soll.

 

Man muss bedenken, dass das Strafprozessrecht aus der guten alten Zeit stammt. Damals erachtete man es als selbstverständlich, dass ein - oder in der Regel sogar drei - Berufsrichter in der Lage sind, einen Sachverhalt zu verstehen und einwandfrei bis in alle Nuancen richtig wiederzugeben. Diese Selbstverständlichkeit gehört nunmehr jedoch der Vergangenheit an. Eine Gegensteuerung ist daher notwendig, um zu verhüten, dass Unrecht geschieht. Das Revisionsgericht darf in der heutigen Zeit nicht mehr das bleiben, als was es konzipiert wurde, nämlich bloße Wahrerin der Rechtseinheit und Wächterin über die Einhaltung der Prozessnormen. Das haben auch schon die Revisionsrichter selbst erkannt, indem sie sich immer mehr darum kümmern, ob das Urteil auch tragbar ist. So sind sie beispielsweise dazu übergegangen, Urteile darauf zu überprüfen, ob sie mit dem sonstigen Akteninhalt in Einklang zu bringen sind: Sollten sich hier Diskrepanzen ergeben, wird eine Entscheidung sehr leicht wegen Verletzung der Aufklärungspflicht aufgehoben. Wie weit die Revisionsgerichte manchmal gehen, wurde einmal auf einem Juristentag offenbar. Dort beklagte sich der Vorsitzende eines Schwurgerichts öffentlich darüber, aus welch läppischen Gründen Urteile aufgehoben würden. Der ebenfalls anwesende Vorsitzende des angesprochenen Revisionsgerichts erklärte, das Schwurgericht habe eine „sehr schlechte Presse gehabt“; man habe deshalb gedacht, es sei ganz gut, wenn sich noch einmal ein anderes Gericht über die Sache hermache; aus diesem Grund habe man einen Anlass gesucht, um das Urteil aufheben zu können.

Es sind schon traurige Zeiten, wenn ein Revisionsgericht sich über die Presse darüber informieren muss, ob ein Urteil haltbar ist oder nicht. Was wir bräuchten, wäre ein modernes Prozessrecht, das sicherere rechtsstaatliche Garantien gibt. Es wäre ohne weiteres möglich, in Verhandlungen Tonbänder mitlaufen zu lassen, zumal die meisten größeren Gerichtssäle über Mikrophonanlagen verfügen. Es müsste jedem Angeklagten auf diese Weise der Nachweis ermöglicht werden, dass in einem Urteil z.B. eine Zeugenaussage nicht richtig beurkundet wurde. Wenn eine solche Möglichkeit bisher nicht eröffnet wurde, so war hierfür ausschlaggebend, dass man eine Überlastung der Revisionsgerichte befürchtete. Wäre es aber wirklich so schlimm, wenn sich ein Verteidiger zum Beweis der Wahrheit auf ein Tonband stützen könnte? Man bräuchte ja gar kein Wortprotokoll zu führen; es würde genügen, wenn man bei Bedarf einem Verteidiger eine Tonbandkopie zur Verfügung stellt, aus welcher er zitieren könnte. Die Mehrarbeit, welche die Revisionsgerichte treffen würde, wäre gering. Insgesamt würde dabei aber die Justiz entlastet, weil Verteidiger, die mehr Garantien für eine einwandfreie Tatbestandsfeststellung haben, weniger verbissen kämpfen müssten.

Es würden sich z.B. die ganzen Streitereien erübrigen, die sich um die Frage der Protokollierung von Aussagen ranken, wobei sich oft Richterablehnungen anschließen, deren Bearbeitung wieder Arbeitskraft bindet, die anderswo besser verwertet werden könnte.

Die derzeitige Situation ist jedenfalls nicht verfassungsgemäß. Das Rechtsstaatsprinzip erfordert, dass die höchstmögliche Rechtssicherheit gewährt wird. Wenn also in den bedeutendsten Strafsachen nur eine Tatsacheninstanz zur Verfügung steht, obwohl nach Meinung der Anwälte der relevante Sachverhalt nur zu 50% richtig erfasst wird, dann müssen eben unbedingt technische Mittel wie Tonbänder eingesetzt werden, um die Tatsachenfeststellungen abzusichern. Wer mit dieser Argumentation Verfassungsbeschwerde gegen seine Verurteilung einlegt, wird recht bekommen müssen, weil es einfach untragbar ist, dass wegen eines schlichten Kfz-Blechschadens drei Instanzen angerufen werden können, aber nur eine Tatsacheninstanz ohne die möglichen Garantien zur Verfügung steht, wenn es um die Frage geht, ob ein Mensch vielleicht sogar lebenslang hinter Gitter muss.

Nun wird vielleicht der juristische Laie meinen, wenn schon die Justiz so rückständig ist, keine Tonbandaufzeichnungen zu machen, dann könnte doch der Anwalt von sich aus sein Diktiergerät einschalten und mitlaufen lassen. Nun, so einfach ist das nicht, denn man darf nicht ohne besondere Erlaubnis im Gerichtssaal Aufnahmen irgendwelcher Art machen. Also holt man sich eben diese Erlaubnis, wird der Laie vorschlagen. Das haben schon viele Anwälte versucht, doch keiner hat damit jemals Erfolg gehabt. Der Vorsitzende eines Gerichts erklärt sich für unzuständig, da der Präsident Hausherr sei und zu entscheiden habe. Dieser wiederum verlangt einen begründeten Antrag, und wenn über den entschieden wird, ist die Verhandlung längst vorbei. Merkwürdigerweise nimmt die Justiz selbst die Regeln über das Abhören und Aufnehmen nicht so genau. Die Presse berichtete schon über Präsidenten, die wissen wollten, wie es in bestimmten Verhandlungen zugeht; sie haben sich über die hausinterne Leitung alles angehört und aufgezeichnet, was im Sitzungssaal gesprochen wurde. Was für ein unangenehmes Gefühl muss es doch für einen Richter sein, zu wissen, dass sein Dienstvorgesetzter bei brisanten Sachen mithört! Von seiner Unabhängigkeit wird da unter diesen Umständen nicht mehr viel übrig bleiben.

Weil die Verhältnisse zur Zeit so trostlos sind, ist der Anwalt fast gezwungen, sich mit einem Trick zu behelfen. Er schaltet sein Tonbandgerät heimlich ein. Wenn dann von der Strafkammer oder vom Schwurgericht im Urteil der Sachverhalt beispielsweise hinsichtlich einer Zeugenaussage falsch wiedergegeben wird, verlangt man Berichtigung und erklärt, man habe festgestellt, dass das Diktiergerät in der Aktentasche offensichtlich durch irgendeinen Stoß unabsichtlich eingeschaltet worden sei; man wolle die Aufzeichnung zusammen mit der Kammer daraufhin prüfen, wie der Wortlaut der Zeugenaussage gelautet habe. Man bekommt unter diesen Voraussetzungen in der Regel recht, ohne dass jemand Wert auf die Anhörung des Tonbands legt. Wenn man dagegen keine Tonbandaufzeichnung hat, wird ein Berichtigungsantrag erfolglos bleiben.

 

Untersuchungen in den USA haben ergeben, dass dort jeder 7. zum Tode Verurteilte unschuldig ist. Inzwischen sind es sogar schon so viele, dass sie kürzlich einen eigenen Kongress zu diesem Thema abhielten. Wir haben Gott sei Dank die Todesstrafe abgeschafft. Aber wir müssen uns schon auch die Frage stellen, wie viele Verurteilte bei uns Opfer einer Justiz sind, die nach Meinung der Anwälte den wahren Sachverhalt nur zu 50 % richtig trifft.

Nun wird sicherlich mancher Leser finden: dann gehört eben das Gesetz geändert. Das ist aber eines der schwierigsten Unterfangen in unserem Rechtsstaat.

Soll beispielsweise am Strafprozessrecht etwas geändert werden, spricht die Anwaltschaft sogleich von einem „Horrorkatalog“. Besonders instruktiv war es, als vor vielen Jahren so eine läppische Änderung durchgeführt wurde wie zum Beispiel die Anhebung des Beschwerdewerts um lächerliche 100 DM; da hörte man aus der Anwaltschaft Stimmen, die von einer Demontage des Rechtsstaats sprachen. Weil das so ist, lässt man nun lieber im großen und ganzen alles beim Alten.

 

Um allerdings dem Bürger zu zeigen, wie modern die Justiz ist, beauftragt man gelegentlich einmal eine Unternehmensberatung, um Möglichkeiten der Prozessbeschleunigung zu finden. Was dabei herauskommt, ist das Geld nicht wert, das dafür ausgegeben wird. So werden in den erstellten Gutachten beispielsweise so gewichtige Dinge festgestellt wie: Es dauert zu lange, wenn die Wachtmeister die Akten austragen; mit moderner Telekommunikation ginge es schneller.

Als ob sich damit auch nur ein bisschen an der normalen Prozessdauer ändern würde!

 

Richter sind auch im allgemeinen viel zu konservativ, als dass sie sich mit so „modernem Zeug“ wie einem Computer abgeben würden. Dafür haben sie ja schließlich ihr Personal, das ihnen die „niederen Tätigkeiten“ abnimmt.

Wie sehr alle Neuerungen von der Justiz abprallen, erfuhr einmal ein Anwalt in einem wichtigen Prozess. Er besaß ein Computerprogramm, in dem höchstrichterliche Entscheidungen unter Stichworten zu finden sind. Als er von einem Mandanten beauftragt wurde, gegen ein landgerichtliches Urteil Berufung einzulegen, fand er zu seinem vermeintlichen Glück ein ihm günstiges Urteil, das einen völlig gleich gelagerten Fall betraf und das ausgerechnet von dem Senat stammte, der für das Berufungsverfahren zuständig war. Stolz legte der Anwalt einen Abdruck der Entscheidung auf den Tisch. Das Ergebnis war verblüffend: Die Richter waren weder bereit, das Urteil entgegen zu nehmen noch es zu lesen. Der Vorsitzende äußerte nur: „Der Senat ist inzwischen völlig neu besetzt. Uns interessiert nicht, was unsere Vorgänger gemacht haben. Wir haben auch keine Zeit, das alles zu lesen. Unsere Zeit reicht nur zur Arbeit mit den gängigen Kommentaren.“ Ein geradezu unglaubliches Beispiel geistiger Arroganz! Wenn der Anwalt sein Handwerk verstanden hätte, hätte er sich jedenfalls nicht davon abhalten lassen, den Inhalt der früheren Entscheidung detailliert vorzutragen. Vielleicht hätte er dann den Prozess nicht verloren, obwohl natürlich ein derartiges kühnes Auftreten eines Anwalts durchaus auch negative Folgen haben kann. Viele Richter meinen nämlich, Anwälte müssten vor ihnen mit der gebotenen Ehrerbietung auftreten. Aufmüpfigkeit wird von manchen als eine Art von Sakrileg angesehen, das man nicht ungestraft lassen kann. Die Strafen können verschieden ausfallen: Die mildeste Form der Ahndung ist, dass man dem Anwalt im Beisein seines Mandanten mehr oder weniger deutlich zu verstehen gibt, dass er vom Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Noch schlimmer aber ist es, wenn der Mandant Konflikte zwischen Gericht und Anwalt ausbaden muss. So gibt es Richter, die freimütig bekennen, dass sie Angeklagte, die sich eines sogenannten „Staranwalts“ bedienen, schlechter behandeln als andere. Sie rechtfertigen dies damit, dass es eine Dreistigkeit sei, der Justiz nach Begehen einer Straftat auch noch einen Haufen Mehrarbeit und Schwierigkeiten zu machen.

 

 

 

8.

 

Das deutsche Volk, in dessen Namen ja Recht gesprochen wird, sollte sich immer wieder kritisch fragen: Haben wir eigentlich noch ein geordnetes Staatswesen, wenn es möglich ist, dass Akten aus dem Kanzleramt genauso verschwinden wie eine Festplatte im Ermittlungsverfahren gegen Strauß junior?

 

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“, dichtete einst Heinrich Heine. Schlaflose Nächte hat in diesem Land auf jeden Fall, wer mit der Justiz zu tun hat. Besser wäre es natürlich, wenn jene Richter, die ihre Pflicht nicht ordnungsgemäß erfüllen, ein wenig Ärger bekämen. Weil die Dienstaufsicht und die höheren Instanzen häufig versagen, sollten diejenigen, die von der Justiz nicht nach Recht und Gesetz behandelt wurden, sich zusammen tun. Sie sollten einen Verband der Opfer der Justiz gründen und jedes Fehlurteil im Internet allgemein bekannt machen, so ähnlich wie dies in www.ciao.com für die Wirtschaft bereits mit großem Erfolg geschieht. Dies wäre wohl der richtige Weg, die Justiz zu mehr Korrektheit zu zwingen. Kein Richter liest wohl gerne, dass ihm in aller Öffentlichkeit der Vorwurf der Pflichtwidrigkeit gemacht wird. Besonders eindrucksvoll wäre es, wenn man den Richtern knallhart auf diese Weise vorhalten würde, was sie oftmals aus dem Tatsachenvortrag einer Partei gemacht haben. Nun wird man sicherlich einwenden, nicht viele Behörden stünden so im Blickfeld der Öffentlichkeit wie die Justiz. Das stimmt, wenn man die spektakulären Fälle im Auge hat. Aber der normale Massenbetrieb bei Gericht wickelt sich nur in den Amtsräumen ab. Es ist daher notwendig, insoweit mehr Öffentlichkeitsbeteiligung herzustellen. Vielleicht nimmt sich einmal eine Gruppe junger Anwälte oder Referendare dieser Sache an. Wenn das Ganze interessant und sachlich aufgezogen ist, tun diese Leute nicht nur ein gutes Werk, sondern können sich damit auch einen Namen machen.

Es gibt zwar schon im Internet das „Beschwerdezentrum“, das aber leider zu wenig bekannt und nicht besonders übersichtlich ist. Wer diese Seiten des Internets besucht, empfindet es als wenig interessant, wenn manche darin eine Art von weitschweifigem Privatkrieg gegen die Justiz führen. Ein solches Beschwerdezentrum sollte bei den Juristen so bekannt sein wie die gängigen Kommentare. Jeder Richter müsste dann freilich immer prüfen, ob er dort zu Recht oder Unrecht kritisiert worden ist, und sich ständig darüber informieren, um sich vielleicht dann – wenn nötig – mit einer Gegendarstellung zu rechtfertigen. Auch bei dienstlichen Beurteilungen müsste ein Blick in das Internet zur Pflicht gemacht werden.

Aber auch bei Laien sollte eine solche kritische Internet-Seite denselben Bekanntheitsgrad haben wie die Bildzeitung, die wohl heute von vielen frustrierten Rechtssuchenden – sicherlich meist vergeblich – angeschrieben wird. Dieses Beschwerdezentrum müsste auch so interessant gestaltet sein, dass es gerne angeklickt wird. Das dürfte deshalb nicht schwer fallen, weil die Leute normalerweise neugierig darauf sind, was sich bei der Justiz so tut.

Eine Zeit lang könnte die Internet-Seite wohl auch gut funktionieren. Aber der Justiz würde sicherlich schnell etwas einfallen, um dieses heilsame System öffentlicher Kritik zum Einsturz zu bringen. Darauf könnte man jetzt schon jede Wette eingehen. Doch die Bürger sollten sich nicht kampflos mundtot machen lassen. Auch die Warentester standen zu Beginn ihrer Tätigkeit kurz vor dem „aus“, so sehr wurden sie von den Betroffenen mit Prozessen eingedeckt. Inzwischen ist aber Vernunft eingekehrt. Daher ist zu hoffen, dass sich auch eine öffentliche Kritik an der Justiz in ähnlicher Weise durchsetzt und bewährt, damit diese Art von Qualitätskontrolle für eine Verbesserung der gesamten Rechtspflege sorgt. Denn jeder sollte sich vor Augen halten, wie schnell er Opfer der Justiz werden kann. Eine wahrheitswidrige Anzeige eines böswilligen Nachbarn - womöglich gestützt auf gekaufte Zeugen - kann genügen, um einen Menschen für viele Jahre hinter Gitter zu bringen.

Hierzu ein Beispiel aus der Praxis: Jemand ärgert sich so sehr über seinen Nachbarn, dass er einen schlimmen Plan ausheckt und verwirklicht: Er erstattet gegen ihn Anzeige wegen Unzucht mit Kindern; zur Begründung gibt er an, er habe beobachtet, wie der Nachbar ein Kind über den Zaun gehoben und es dabei unsittlich unter dem Rock berührt habe. Da er weiß, dass er ohne Zeugen für die Tat bei Gericht keine Chance hat, überredet er eine alte Frau mit dem Argument, sie müsse unbedingt seine Aussagen bestätigen, „damit dem Saubären sein schmutziges Handwerk gelegt werden könne.“ Es kommt zum Prozess. Alle halten die Zeugenaussagen für völlig glaubhaft, nur der Richter hat seine Zweifel und macht seine Arbeit gründlich: Er fragt den Anzeigeerstatter und seine Zeugin genau nach der Stelle, wo das Kind über den Zaun gehoben worden sein soll und nach der Kleidung des Kindes. Die alte Frau fühlt sich auf einmal nicht mehr recht wohl in ihrer Rolle als Zeugin und gibt schließlich zu, wie es wirklich gewesen ist.

Darum denken Sie daran, dass auch Sie einmal Opfer einer falschen Verdächtigung werden und dann vielleicht an einen Richter geraten könnten, der „kurzen Prozess“ mit Ihnen macht. Nun gibt es natürlich Leute, die glauben, dass ein guter Anwalt einem Mandanten in einer solchen schwierigen Lage helfen kann. Sicherlich! Aber ob er Erfolg damit hat, steht auf einem anderen Blatt: Wenn nämlich ein Zeuge merkt, dass er mit seiner falschen Aussage beim Richter ohne weiteres durchkommt, wird er bei einer Befragung durch den Verteidiger meist nur kaltschnäuzige Antworten geben besonders, wenn er sich womöglich vom Richter durch ironische Zwischenfragen wie beispielsweise: „Herr Rechtsanwalt, wissen Sie vielleicht noch, wie Sie sich heute vor einem Jahr angezogen hatten?“ in seiner Frechheit bestätigt fühlt.

Die vielen unterschiedlichen Beispiele, die in diesem Buch nach und nach geschildert wurden, zeigen deutlich, dass alles getan werden muss, um die Justiz für den Bürger sicherer zu machen, so wie ja auch ständig daran gearbeitet wird, die Sicherheit der Kraftfahrzeuge zu erhöhen, damit sie in jeder Hinsicht den Anforderungen der jetzigen Zeit standhalten können.

Genau dem Motto der alten Römer folgend: „Tempora mutant et nos mutamur in illis.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachwort

 

 

„Difficile est satiram non scribere“ („Es ist schwierig, keine Komödie zu schreiben“), so sagte einst Juvenal. Wenn man die Verhältnisse bei der Justiz betrachtet, fällt einem dieser Ausspruch unwillkürlich ein. Darum sei dieses Buch ausdrücklich als Satire bezeichnet – die Juristen unter den Lesern werden genau wissen, warum: denn wer sich die Justiz zum Feind macht, hat einen mächtigen, launischen Gegner. Deshalb traut sich auch kaum jemand, ein offenes, kritisches Wort zu sagen. Das war offenbar schon immer so, denn seit Jahrhunderten werden die Menschen durch die Bibel wie folgt belehrt: „Mit einem Richter rechte nicht.“ (Sirach 8,14). Daher kommen viele Richter zu der unerschütterlichen Überzeugung, dass alles vollkommen in Ordnung ist, was auch immer sie entscheiden.

Die Justiz kann zwar großzügig sein, wenn es um die Aufarbeitung von Unrecht geht, das sie selbst zu verantworten hat; es sei hier nur an die Entscheidungen erinnert, die sich mit national-sozialistischen Unrechtsurteilen befassen. Aber sie kann durchaus auch dort Unrecht wittern, wo es sich nur um sachliche Kritik handelt. Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, in denen ein kritischer Bürger erst vor dem Bundesverfassungsgericht Recht bekam. Ein solcher nutzloser Leerlauf, der nur Geld, Zeit und Nerven kostet, möge diesem Buch (und damit der Justiz) erspart bleiben. Auch Justizangehörige, die dazu neigen, Kritik an ihrem Tun als Sakrileg zu betrachten, werden einsehen müssen, dass es in unserer tabulos gewordenen Zeit nicht verboten sein darf, Missstände zu schildern und „schwarze Schafe“ aufs Korn zu nehmen.

Irgendwann einmal wird sich ohnehin jeder Richter vor dem höchsten Gericht verantworten müssen, wo dann als Maßstab gelten wird: „Nach seiner Würde spricht man ihm das Urteil.“ (Sirach 8, 14) Dem kann man nur noch ein „Amen“ hinzu fügen, was ja übersetzt soviel bedeutet wie:

„So sei es!“

 

Stilblüten aus dem Garten Justitias finden Sie hier.  

 

Und Aphorismen über die Justiz können Sie hier lesen.

 

Übrigens: Justitia war eine Frau. Wenn Sie mehr über Frauen wissen wollen, dann sollten Sie unbedingt das Buch

Frauen für Fortgeschrittene

herunterladen.

 

>>> Zur Startseite